Philibert, der letzte Sproß eines verarmten Adelsgeschlechts, kann die Geschichte der französischen Könige im Schlaf hersagen, aber er stottert erbärmlich, wenn er vor einer jungen Frau steht. Er verkauft Postkarten in einem Museum und hütet vorübergehend eine riesige Wohnung voller alter Bilder und Möbel. Camille, belesen, künstlerisch begabt und dürr wie eine Bohnenstange, arbeitet nachts in einer Putzkolonne, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Und Franck schuftet als Koch in einem Feinschmeckerlokal. Sein bißchen Freizeit braucht er für ein Mädchen, Motorräder und seine Großmutter Paulette, die sich wehrt, in ein Altenheim abgeschoben zu werden.
Vier grundverschiedene Menschen, die streiten können, daß die Fetzen fliegen. Und der Beginn einer wunderbaren Liebe, die ausgerechnet denen widerfährt, die sie um jeden Preis verhindern wollten.
Anna Gavalda
Zusammen ist man
weniger allein
Roman
Aus dem Französischen
von Ina Kronenberger
Carl Hanser Verlag
Die Originalausgabe erschien erstmals 2004 unter dem Titel
Ensemble, c'est tout bei Le Dilettante in Paris.
ISBN 3-446-20612-4
© Le Dilettante 2004
Alle Rechte der deutschen Ausgabe
© Carl Hanser Verlag München Wien 2005
Für Muguette
(1919–2003)
Angehörige nicht ermittelt
TEIL 1
1
Paulette Lestafier war nicht so verrückt, wie die Leute behaupteten. Natürlich wußte sie, wann welcher Tag war, sie hatte ja sonst nichts zu tun, als die Tage zu zählen, auf sie zu warten und wieder zu vergessen. Sie wußte sehr wohl, daß heute Mittwoch war. Außerdem war sie fertig! Hatte ihren Mantel übergezogen, ihren Korb gegriffen und ihre Rabattmärkchen zusammengesucht. Sie hatte sogar schon von weitem das Auto der Yvonne gehört. Aber dann stand die Katze vor der Tür, hatte Hunger, und als sie sich bückte, um ihr den Napf wieder hinzustellen, war sie gestürzt und mit dem Kopf auf der untersten Treppenstufe aufgeschlagen.
Paulette Lestafier fiel öfter hin, aber das war ihr Geheimnis. Das durfte sie nicht erzählen, niemandem.
»Niemandem, hörst du?« schärfte sie sich ein. »Weder Yvonne noch dem Arzt und schon gar nicht deinem Jungen …«
Sie mußte langsam wieder aufstehen, warten, bis die Gegenstände alle wieder normal aussahen, Jod auftragen und ihre verfluchten blauen Flecken abdecken.
Die blauen Flecken der Paulette waren nie blau. Sie waren gelb, grün oder hellviolett und lange sichtbar. Viel zu lange. Mehrere Monate bisweilen. Es war schwer, sie zu verstecken. Die Leute fragten sie, warum sie immer wie im tiefsten Winter herumlief, warum sie Strümpfe trug und nie die Strickjacke auszog.
Vor allem der Kleine ging ihr damit auf die Nerven:
»He, Omi? Was soll das? Zieh den Plunder aus, du gehst ja ein vor Hitze!«
Nein, Paulette Lestafier war überhaupt nicht verrückt. Sie wußte, daß ihr die riesigen blauen Flecken, die nicht mehr weggingen, einmal viel Ärger bereiten würden.
Sie wußte, wie alte, unnütze Frauen wie sie endeten. Die die Quecke im Gemüsegarten wuchern ließen und sich an den Möbeln festhielten, um nicht zu fallen. Die Alten, die den Faden nicht mehr durch das Nadelöhr bekamen und nicht mehr wußten, wie man den Fernseher lauter stellt. Die alle Knöpfe der Fernbedienung ausprobierten und am Ende heulend vor Wut den Stecker zogen.
Winzige, bittere Tränen.
Mit dem Kopf in den Händen vor einem stummen Fernseher.
Und dann? Nichts mehr? Keine Geräusche mehr in diesem Haus? Keine Stimmen? Nie mehr? Weil man angeblich die Farbe der Knöpfe vergessen hat? Dabei hat er dir farbige Etiketten aufgeklebt, der Kleine, er hat dir Etiketten aufgeklebt! Eins für die Programme, eins für die Lautstärke und eins für den Ausknopf! Komm schon, Paulette! Hör auf, so zu heulen, und sieh dir die Etiketten an!
Schimpft nicht mit mir, ihr. Sie sind schon lange nicht mehr da, die Etiketten. Sie haben sich fast sofort wieder gelöst. Seit Monaten suche ich den Knopf, weil ich nichts mehr höre, weil ich nur noch die Bilder sehe, die leise murmeln.
Jetzt schreit doch nicht so, ihr macht mich ja ganz taub.
2
»Paulette? Paulette, bist du da?«
Yvonne fluchte. Sie fror, drückte ihren Schal fester an die Brust und fluchte nochmals. Sie mochte es nicht, wenn sie zu spät zum Supermarkt kamen.
Ganz und gar nicht.
Seufzend kehrte sie zu ihrem Auto zurück, stellte den Motor ab und nahm ihre Mütze.
Die Paulette war bestimmt hinten im Garten. Die Paulette war immer hinten im Garten. Saß auf der Bank neben den leeren Kaninchenställen. Stundenlang saß sie dort, von morgens bis abends womöglich, aufrecht, reglos, geduldig, die Hände auf den Knien, mit abwesendem Blick.
Die Paulette redete mit sich selbst, sprach mit den Toten und betete für die Lebenden.
Sprach mit den Blumen, den Salatpflänzchen, den Meisen und ihrem Schatten. Die Paulette wurde senil und wußte nicht mehr, wann welcher Tag war. Heute war Mittwoch, und Mittwoch hieß Einkaufen. Yvonne, die sie seit mehr als zehn Jahren jede Woche abholte, hob das Schnappschloß des Seitentürchens an und stöhnte: »Was für ein Jammer …«
Was für ein Jammer zu altern, was für ein Jammer, so allein zu sein, und was für ein Jammer, zu spät zum Supermarkt zu kommen und keine Einkaufswagen mehr neben der Kasse zu finden.
Doch nein. Der Garten war leer.
Die Alte fing an, sich Sorgen zu machen. Sie ging ums Haus
herum und hielt die Hände wie Scheuklappen an die Scheibe, um zu sehen, was es mit der Stille auf sich hatte.
»Allmächtiger!« stieß sie aus, als sie sah, daß ihre Freundin in der Küche auf dem Fliesenboden lag.
Vor lauter Schreck bekreuzigte sich die gute Frau irgendwie, verwechselte den Sohn mit dem Heiligen Geist, fluchte noch ein bißchen und suchte im Geräteschuppen nach Werkzeug. Mit einer Hacke schlug sie die Scheibe ein, dann schwang sie sich unter enormer Anstrengung auf das Fensterbrett.
Mit Mühe gelangte sie durch den Raum, kniete nieder und hob den Kopf der alten Frau an, der in einer rosa Pfütze badete, in der sich Milch und Blut schon vermischt hatten.
»He! Paulette! Bist du tot? Bist du jetzt tot?«
Die Katze schleckte schnurrend den Boden ab und scherte sich kein bißchen um das Drama, den Anstand und die ringsum verstreuten Glasscherben.
3
Yvonne legte keinen großen Wert darauf, aber die Feuerwehrleute hatten sie gebeten, zu ihnen in den Krankenwagen zu steigen, um die Formalitäten zu regeln und die Aufnahmemodalitäten des Rettungsdienstes zu klären:
»Kennen Sie die Frau?«
Sie war empört:
»Ich glaube schon, daß ich sie kenne! Wir waren zusammen auf der Volksschule!«
»Dann steigen Sie ein.«
»Und mein Auto?«
»Das wird sich schon nicht in Luft auflösen! Wir bringen Sie später hierher zurück.«
»Gut«, sagte sie ergeben, »dann muß ich wohl heute nachmittag einkaufen gehen …«
Im Wagen war es ziemlich unbequem. Man hatte ihr neben der Trage ein winziges Höckerchen zugewiesen, auf dem sie sich mehr schlecht als recht hielt. Sie drückte ihre Handtasche fest an sich und kippte in jeder Kurve beinahe um.
Ein junger Mann war bei ihr. Er schimpfte, weil er am Arm der Kranken keine Vene finden konnte. Yvonne mißfiel sein Verhalten.
»Schreien Sie nicht so«, murmelte sie, »schreien Sie nicht so. Was wollen Sie denn von ihr?«
»Sie soll an den Tropf.«
»An was?«
Der Blick des jungen Mannes verriet ihr, daß es besser war, den Mund zu halten, und sie murmelte weiter vor sich hin:
»Da seh sich einer an, wie er ihr den Arm demoliert, nein, da seh sich einer das mal an. Wie furchtbar. Ich schau lieber nicht hin. Jesus Maria. He! Sie tun ihr doch weh!«
Er stand neben ihr und justierte ein kleines Rädchen an einem Schlauch. Yvonne zählte die Bläschen und betete verzweifelt. Das Heulen der Sirene beeinträchtigte ihre Konzentration.
Sie hatte die Hand ihrer Freundin genommen, sie sich in den Schoß gelegt und strich mechanisch darüber, als wollte sie einen Rocksaum glätten. Der Kummer und der Schrecken ließen nicht mehr Zärtlichkeit zu.
Yvonne Carminot seufzte, betrachtete die Falten, die Schwielen, die dunklen Flecken hier und da, die noch feinen, aber harten, dreckigen und rissigen Fingernägel. Sie hatte ihre Hand danebengelegt und verglich sie miteinander. Sie selbst war etwas jünger und auch rundlicher, aber vor allem hatte sie auf Erden weniger Leid erfahren. Sie hatte weniger hart gearbeitet und mehr Liebkosungen empfangen. Es war schon ziemlich lange her, daß sie sich im Garten abgerackert hatte. Ihr Mann machte weiter die Kartoffeln, aber der Rest war im Supermarkt viel besser. Das Gemüse war sauber, und sie brauchte beim Salatkopf nicht länger das Herz auseinanderzunehmen wegen der Schnecken. Und außerdem hatte sie ihre Lieben um sich: ihren Gilbert, ihre Nathalie und die Kleinen. Die Paulette hingegen, was war ihr geblieben? Nichts. Nichts Gutes. Der Mann tot, eine Nutte von Tochter und ein Junge, der sie nie besuchen kam. Nichts als Sorgen, nichts als Erinnerungen, ein Rosenkranz kleiner Nöte.
Yvonne Carminot kam ins Grübeln: War es das, das Leben? Wog es so leicht? War es so undankbar? Und doch, die Paulette. Was war sie für eine schöne Frau gewesen! Und wie gut sie war! Wie sie früher gestrahlt hatte! Und jetzt? Wo war das nur alles hin?
In dem Augenblick bewegten sich die Lippen der alten Frau. Auf der Stelle verscheuchte Yvonne das ganze tiefsinnige Zeug, das sie bedrückte:
»Paulette, ich bin’s, Yvonne. Es ist alles in Ordnung, Paulette. Ich bin zum Einkaufen gekommen und …«
»Bin ich tot? War’s das, bin ich tot?« flüsterte sie.
»Natürlich nicht, Paulette! Natürlich nicht! Du bist nicht tot, also wirklich!«
»Ach«, stöhnte Paulette und schloß die Augen, »ach«.
Dieses »Ach« war entsetzlich. Eine Silbe der Enttäuschung, der Entmutigung, gar der Resignation.
Ach, ich bin nicht tot. Na ja. Was soll’s? Ach, Verzeihung.
Yvonne war keineswegs einverstanden:
»Komm schon! Wir wollen doch leben, Paulette! Wir wollen doch leben!«
Die alte Frau drehte den Kopf von rechts nach links. Fast unmerklich und ganz schwach. Winziges Bedauern, traurig und trotzig. Winzige Revolte.
Die erste vielleicht.
Dann war es still. Yvonne wußte nicht, was sie sagen sollte. Sie schneuzte sich und nahm erneut die Hand ihrer Freundin, vorsichtiger jetzt.
»Sie werden mich in ein Heim stecken, stimmt’s?«
Yvonne fuhr zusammen:
»Nicht doch, sie werden dich nicht in ein Heim stecken! Nicht doch! Warum sagst du so was? Sie werden dich pflegen und damit ist’s gut! In ein paar Tagen bist du wieder zu Hause!«
»Nein. Ich weiß genau, daß es nicht so ist.«
»Ach! Tatsächlich, na, das ist ja ganz was Neues! Und warum nicht, meine Liebe?«
Der Sanitäter bedeutete ihr mit einer Geste, leiser zu sprechen.
»Und meine Katze?«
»Ich kümmere mich um sie. Keine Sorge.«
»Und mein Franck?«
»Wir werden ihn anrufen, deinen Jungen, wir werden ihn gleich anrufen. Dafür werde ich sorgen.«
»Ich finde seine Nummer nicht mehr. Ich habe sie verloren.«
»Ich werde sie schon finden!«
»Aber wir sollten ihn nicht stören, ja? Er muß hart arbeiten, weißt du?«
»Ja, Paulette, ich weiß. Ich werde ihm eine Nachricht hinterlassen. Du weißt ja, wie das heute ist. Die jungen Leute haben alle ein Handy. Man stört sie nicht mehr.«
»Sag ihm, daß … daß ich … daß …«
Der alten Frau versagte die Stimme.
Während der Wagen die Auffahrt zum Krankenhaus nahm, weinte Paulette Lestafier leise: »Mein Garten … Mein Haus … Bringt mich wieder nach Hause, bitte …«
Yvonne und der junge Sanitäter waren bereits aufgestanden.
4
»Wann hatten Sie zuletzt Ihre Regel?«
Sie stand schon hinter dem Vorhang und kämpfte mit den Hosenbeinen ihrer Jeans. Sie seufzte. Sie hatte gewußt, daß er sie das fragen würde. Sie hatte es gewußt. Sie hatte es vorhergesehen. Sie hatte sich die Haare mit einer ziemlich schweren, silbernen Haarspange zusammengebunden, war mit geballten Fäusten auf die verfluchte Waage gestiegen und hatte versucht, sich so schwer wie möglich zu machen. Sie war sogar ein wenig gehüpft, um die Nadel etwas anzustoßen. Aber nein, es hatte nicht gereicht, und jetzt durfte sie seine Moralpredigt über sich ergehen lassen.
Sie hatte es vorhin schon seiner Augenbraue angesehen, als er ihr den Bauch abgetastet hat. Ihre Rippen, ihre vorstehenden Hüftknochen, ihre lächerlichen Brüste und ihre hohlen Oberschenkel, das alles mißfiel ihm.
Langsam zog sie die Schnalle ihres Ledergürtels zu. Dieses Mal hatte sie nichts zu befürchten. Das hier war der Amtsarzt, nicht der Schularzt. Ein paar schöne Worte, und sie war draußen.
»Na?«
Sie saß ihm jetzt gegenüber und lächelte ihn an.
Es war ihre Kriegslist, ihre Geheimwaffe, ihr letzter Trumpf. Ein Lächeln für den lästigen Gesprächspartner, etwas Besseres gab es nicht, um das Thema zu wechseln. Nur leider hatte der Typ dieselbe Schule durchlaufen. Er hatte die Ellbogen aufgestützt, die Hände verschränkt und seinerseits ein entwaffnendes Lächeln aufgesetzt. Jetzt war sie dran mit der Antwort. Sie hätte es sich im übrigen denken können, er war süß, und sie hatte nur noch die Augen schließen können, als er ihr die Hände auf den Bauch legte.
»Na? Und nicht lügen! Sonst antworten Sie lieber gar nicht.«
»Lange her.«
»Natürlich«, sagte er und verzog das Gesicht, »natürlich … Achtundvierzig Kilo bei eins dreiundsiebzig, wenn Sie so weitermachen, passen Sie bald zwischen Papier und Kleber.«
»Was für ein Papier?« fragte sie naiv.
»Hm … ein Plakat.«
»Ach so! Ein Plakat? Tut mir leid, den Ausdruck kannte ich nicht.«
Er wollte etwas erwidern, ließ es jedoch bleiben. Mit einem Seufzer bückte er sich und griff nach dem Rezeptblock, bevor er ihr erneut in die Augen sah:
»Sie essen nicht?«
»Und ob ich esse!«
Plötzlich überkam sie eine große Müdigkeit. Sie hatte diese Diskussionen über ihr Gewicht satt, sie hatte die Schnauze voll. Seit fast siebenundzwanzig Jahren gingen sie ihr damit schon auf den Keks. Konnten sie nicht über etwas anderes reden? Sie war doch da, verdammt! Sie war lebendig. Sehr lebendig. Ebenso aktiv wie die anderen. Ebenso fröhlich, ebenso traurig, ebenso mutig, ebenso sensibel und ebenso frustriert wie alle anderen Mädchen. Da drinnen gab es jemanden! Da war jemand.
Erbarmen, konnte man mit ihr heute nicht über was anderes reden?
»Sie geben mir recht, oder? Achtundvierzig Kilo ist nicht so rasend viel.«
»Ja«, sie gab sich geschlagen, »ja … Ich gebe Ihnen recht. Es ist schon lange nicht mehr so weit runtergegangen. Ich …«
»Sie?«
»Nein. Nichts.«
»Raus damit.«
»Ich … ich war schon mal glücklicher, glaube ich.«
Er reagierte nicht.
»Füllen Sie mir das aus, die Bescheinigung?«
»Ja, ja, die fülle ich Ihnen aus«, antwortete er und schüttelte sich, »hm … was ist das noch mal für ein Unternehmen?«
»Welches?«
»Das hier, bei dem wir gerade sind, also Ihrs.«
»Proclean.«
»Pardon?«
»Proclean.«
»Großes P, dann r-o-k-l-i-n«, buchstabierte er.
»Nein, c-l-e-a-n«, verbesserte sie ihn. »Ich weiß, es ist eigentlich nicht logisch, besser wäre ›Prorein‹ gewesen, aber ich glaube, ihnen hat dieser Yankee-Touch gefallen, verstehen Sie? Das klingt sauberer. Mehr … wanderfull driem tiem.«
Er verstand nicht.
»Was ist das genau?«
»Pardon?«
»Das Unternehmen?«
Sie lehnte sich zurück, streckte die Arme, um sich zu dehnen, und deklamierte, so ernst sie konnte, mit Hostessen-Stimme, worin ihre neue Aufgabe bestand:
»Proclean, meine Damen und Herren, erfüllt all Ihre Wünsche in puncto Sauberkeit. Ob Villa, Dienstwohnung, Büroraum, Arztpraxis, Sprechzimmer, Agentur, Krankenhaus, Siedlung, Mietshaus oder Werkstatt, Proclean ist Ihnen stets zu Diensten. Proclean räumt auf, Proclean putzt, Proclean fegt, Proclean saugt, Proclean wachst, Proclean bohnert, Proclean desinfiziert, Proclean sorgt für Glanz, Proclean verschönert, Proclean saniert und Proclean schafft Duft in der Luft. Wann immer Sie wünschen. Flexibilität. Diskretion. Sorgfalt, knapp kalkulierte Preise. Proclean, die Profis für Sie im Einsatz!«
Sie hatte diesen beachtlichen Sermon in einem Atemzug hergebetet, ohne zwischendurch Luft zu holen. Ihr kleiner French-Doktor war völlig verdattert:
»Ist das ein Gag?«
»Keineswegs. Und außerdem werden Sie das Dream Team gleich kennenlernen, es wartet vor der Tür.«
»Was genau machen Sie?«
»Das habe ich Ihnen doch gerade gesagt.«
»Nein, ich meine Sie … Sie!«
»Ich? Na ja, ich räume auf, ich putze, ich fege, ich sauge, ich wachse, das ganze Programm.«
»Sind Sie Putzfr…?«
»Rrr… raumpflegerin, bitte.«
Er wußte nicht, was er glauben sollte.
»Warum machen Sie das?«
Sie riß die Augen auf.
»Nein, ich meine, warum ›das‹? Warum nicht etwas anderes?«
»Warum nicht?«
»Würden Sie nicht lieber einer Beschäftigung nachgehen, die … hm …«
»Erfüllender ist?«
»Ja.«
»Nein.«
Er verharrte einen Augenblick, den Stift in der Luft, den Mund halb offen, sah dann auf seine Uhr, um das Datum abzulesen, und fragte sie, ohne aufzusehen:
»Name?«
»Fauque.«
»Vorname?«
»Camille.«
»Geburtsdatum?«
»17. Februar 1977.«
»Bitte schön, Mademoiselle Fauque, ich erkläre Sie für arbeitstauglich.«
»Wunderbar. Was schulde ich Ihnen?«
»Nichts, es wird … Proclean zahlt für Sie.«
»Aaah Proclean!« wiederholte sie, stand auf und fügte theatralisch hinzu, »ich bin kloputztauglich, herrlich ist das!«
Er begleitete sie zur Tür.
Er lächelte nicht mehr und hatte wieder die Maske des Gewissensgurus aufgesetzt.
Während er die Klinke drückte, hielt er ihr die Hand hin:
»Ein paar Kilos wenigstens? Für mich.«
Sie schüttelte den Kopf. Das zog nicht mehr bei ihr. Emotionale Erpressungen, davon hatte sie ihre Dosis gehabt.
»Mal sehen, was sich machen läßt«, antwortete sie. »Mal sehen.«
Nach ihr trat Samia ein.
Sie stieg die Stufen des Wagens hinunter und tastete ihre Jacke nach einer Zigarette ab. Die dicke Mamadou und Carine saßen auf einer Bank, lästerten über die Passanten und schimpften, weil sie nach Hause wollten.
»Na?« Mamadou lachte, »was hast du denn da drin getrrieben? Ich muß meine Bahn krriegen! Hat er dich verhext oder was?«
Camille hatte sich auf den Boden gesetzt und sie angelächelt. Nicht das Lächeln von eben. Ein reines Lächeln diesmal. Ihre Mamadou, der konnte sie nichts vormachen, dafür war sie viel zu schlau.
»Is er nett?« fragte Carine und spuckte einen Fetzen von ihrem Fingernagel aus.
»Ganz toll.«
»Ah, ich hab’s genau gewußt!« frohlockte Mamadou, »hab ich’s mir doch gedacht! Hab ich’s dir und der Sylvie nicht gesagt, daß sie da drrin ganz nackt war!«
»Er stellt dich auf die Waage.«
»Wen? Mich?« schrie Mamadou. »Mich? Wenn der glaubt, daß ich auf seine Waage steige!«
Mamadou dürfte um die hundert Kilo wiegen, vorsichtig geschätzt. Sie schlug sich auf die Oberschenkel:
»Niemals! Wenn ich da drraufsteige, zermalme ich sie und ihn gleich mit! Und was noch?«
»Er verpaßt dir ein paar Spritzen«, warf Carine ein.
»Was für Sprritzen denn?«
»Nein, nein«, Camille beruhigte sie, »nein, nein, er hört nur dein Herz und deine Lunge ab.«
»Das ist okay.«
»Er faßt auch deinen Bauch an.«
»Das wollen wir mal sehen«, sie zog ein Gesicht, »das wollen wir doch mal sehen, viel Spaß wünsch ich ihm. Wenn der meinen Bauch anfaßt, frreß ich ihn roh. Mm, lecker, so ein kleines weißes Medizinmännchen.«
Sie machte einen auf Afrikanerin und rieb sich über ihr Gewand.
»Oh ja, das ist gutes Ham-ham. Das weiß ich von meinen Ahnen. Mit Maniok und Hahnenkämmen. Mmm …«
»Und die Bredart, was er mit der wohl macht?«
Die Bredart, Josy mit Vornamen, war ihr Drachen, ihre Furie, ihre Anscheißerin vom Dienst und ihrer aller Lieblingsfeindin. Nebenbei war sie auch noch ihre Vorgesetzte. Die »Vorarbeiterin der Kolonne«, wie ihr Anstecker unmißverständlich verkündete. Die Bredart machte ihnen das Leben schwer, im Rahmen der ihr zur Verfügung stehenden Mittel zwar nur, aber immerhin, ermüdend war es schon.
»Mit der, nichts. Wenn er die riecht, bittet er sie auf der Stelle, sich wieder anzuziehen.«
Carine hatte nicht unrecht. Zu den bereits erwähnten Qualitäten der Josy Bredart kam hinzu, daß sie ziemlich stark schwitzte.
Dann war Carine an der Reihe, und Mamadou holte aus ihrem Bastkorb ein Bündel Papiere, das sie Camille auf die Knie legte. Diese hatte ihr versprochen, einen Blick darauf zu werfen, und versuchte nun, das ganze Durcheinander zu entziffern.
»Was ist das?«
»Fürs Kindergeld!«
»Nein, ich meine hier die ganzen Namen?«
»Wie, das ist meine Familie!«
»Welche Familie?«
»Welche Familie, welche Familie? Na, meine! Strreng mal deinen Kopf ein bißchen an, Camille!«
»All die Namen, das ist deine Familie?«
»Alle«, sagte sie mit stolzem Kopfnicken.
»Wie viele Kinder hast du denn?«
»Ich selbst habe fünf und mein Bruder vier.«
»Und warum stehen die alle da?«
»Wo da?«
»Na … Auf dem Papier.«
»Das ist am einfachsten so, mein Bruder und meine Schwägerin wohnen bei uns, und wo wir außerdem denselben Briefkasten haben …«
»Das geht aber nicht. Sie sagen, das geht nicht. Du kannst nicht neun Kinder haben.«
»Und warum nicht?« fragte sie entrüstet, »meine Mutter hatte zwölf!«
»Moment, reg dich nicht auf, Mamadou, ich sag dir ja nur, was da steht. Sie fordern dich auf, die Situation zu klären und dein Familienstammbuch vorbeizubringen.«
»Und warum das?«
»Tja, ich nehme an, euer Arrangement ist nicht legal. Ich glaube nicht, daß du deine Kinder und die von deinem Bruder zusammen in einen Antrag packen kannst.«
»Ja, aber mein Bruder hat doch nix!«
»Arbeitet er?«
»Natürlich arbeitet er! Auf der Autobahn!«
»Und deine Schwägerin?«
Mamadou rümpfte die Nase:
»Die, die macht nix! Gar nix, sag ich dir. Die rührt keinen Finger, diese Jammerliese, bewegt ihren fetten Arsch nicht von der Stelle!«
Camille schmunzelte in sich hinein, schwer vorzustellen, was in Mamadous Augen ein »fetter Arsch« sein konnte.
»Haben sie Papiere, die beiden?«
»Na klar!«
»Dann können sie doch einen eigenen Antrag abgeben.«
»Aber meine Schwägerin will da nicht hingehen, zum Amt, und mein Bruder arbeitet nachts, am Tag schläft er also, verstehst du?«
»Ich verstehe. Aber für wie viele Kinder kriegst du denn zur Zeit Kindergeld?«
»Für vier.«
»Vier?«
»Ja, das will ich dir doch die ganze Zeit schon erklären, aber du, du bist wie alle Weißen, immer recht haben wollen und nie zuhören!«
Camille schnaubte genervt.
»Was ich dir erzählen will: Das Prroblem ist, daß sie die Sissi vergessen haben.«
»Die wievielte ist das, Disissi? Nummer …?«
»Das ist keine Nummer, du dumme Nuß!« Die Dicke kochte vor Wut, »das ist meine Jüngste! Die kleine Sissi.«
»Ach so! Sissi!«
»Ja.«
»Und warum ist sie nicht dabei?«
»Sag mal, Camille, machst du das extrra? Das ist genau das, was ich die ganze Zeit wissen will!«
Sie wußte nicht mehr, was sie sagen sollte.
»Am besten, ihr geht zur Kindergeldstelle, du, dein Bruder und deine Schwägerin mit allen Papieren und erklärt der Frau …«
»Was heißt ›der Frau‹? Welcher denn?«
»Egal welcher!« ereiferte sich Camille.
»Ach so, okay, reg dich ab. Ich dachte ja nur, du kennst da eine.«
»Mamadou, ich kenne niemanden bei der Kindergeldstelle. Ich bin da noch nie im Leben gewesen, verstehst du?«
Sie gab ihr den ganzen Packen zurück, darunter Reklamezettel, Fotos von Autos und Telefonrechnungen.
Sie hörte sie brummen: »Sagt ›die Frau‹, und ich frage sie, welche Frau, ist doch normal, sind ja auch Männer da, woher will sie das wissen, wenn sie noch nie da war, woher will sie wissen, daß da nur Frauen sind? Es gibt auch Männer da. Ist unsere Frau Hellseherin oder was?«
»He? Bist du beleidigt?«
»Nein, ich bin nicht beleidigt. Du sagst nur, daß du mir helfen willst, und dann hilfst du mir nicht. Das ist alles! Mehr nicht!«
»Ich komme mit.«
»Zur Kindergeldstelle?«
»Ja.«
»Und sprichst du mit der Frau?«
»Ja.«
»Und wenn sie nicht da ist?«
Camille drohte gerade ihre Gelassenheit zu verlieren, als Samia zurückkam:
»Du bist dran, Mamadou. Hier«, sagte sie und drehte sich um, »die Nummer vom Onkel Doktor.«
»Wozu das?«
»Wozu das? Wozu das? Was weiß ich! Für Doktorspielchen vielleicht! Er sagt, die soll ich dir geben.«
Er hatte auf einem Rezeptformular seine Handynummer notiert:
Ich verschreibe Ihnen ein gutes Abendessen, rufen Sie mich an.
Camille Fauque formte ein Kügelchen daraus und warf es in den Rinnstein.
»Weißt du was«, fügte Mamadou hinzu, erhob sich schwerfällig und zeigte mit dem Finger auf sie, »wenn du die Sache mit der Sissi in Ordnung bringst, sag ich meinem Bruder, daß er dir einen Mann schicken soll.«
»Ich dachte, dein Bruder arbeitet auf der Autobahn?«
»Auf der Autobahn, aber auch mit Behexungen und Gegenzauber.«
Camille rollte mit den Augen.
»Und ich?« fiel Samia ein, »kann er mir auch einen besorgen, einen Kerl für mich?«
Mamadou ging an ihr vorbei und zeigte ihr die Klauen:
»Du gibst mir erst meinen Eimer zurück, du Miststück, dann sprechen wir uns wieder!«
»Scheiße, du gehst mir auf den Zeiger! Ich hab deinen Eimer nicht, das hier ist meiner! Dein Eimer war rot!«
»Miststück, du«, zischte Mamadou und entfernte sich, »verfluchtes Miststück.«
Sie war noch nicht oben auf dem Treppchen angekommen, als der Wagen schon gefährlich ins Schwanken geriet. Alles Gute da drinnen, lächelte Camille und schnappte sich ihre Tasche. Alles Gute.
»Gehen wir?«
»Ich komm mit.«
»Was machst du? Nimmst du auch die Metro?«
»Nein. Ich geh zu Fuß.«
»Stimmt ja, du wohnst ja in der besseren Gegend.«
»Von wegen.«
»Also, bis morgen.«
»Tschüß, Mädels.«
Camille war bei Pierre und Mathilde zum Abendessen eingeladen. Sie rief an, um abzusagen, und war erleichtert, als der Anrufbeantworter ansprang.
Die ach so leichte Camille Fauque machte sich auf. Das einzige, was sie auf dem Asphalt hielt, waren das Gewicht ihres Rucksacks und, nicht ganz so leicht zu benennen, die Schotter- und Kieselsteine, die sich in ihr angesammelt hatten. Das hätte sie dem Amtsarzt vorhin erzählen sollen. Wenn sie Lust dazu gehabt hätte … Oder die Kraft? Oder auch die Zeit? Die Zeit vor allem, beruhigte sie sich, ohne so recht daran glauben zu können. Die Zeit war etwas, das sie nicht länger zu fassen vermochte. Zu viele Wochen und Monate waren vergangen, ohne daß sie, in welcher Form auch immer, daran teilgehabt hätte, und ihre Tirade von vorhin, ihr absurder Monolog, mit dem sie sich einzureden versucht hatte, daß sie ebenso fleißig war wie alle anderen, war die reinste Lüge.
Welches Wort hatte sie noch mal verwendet? »Lebendig«, oder? Lächerlich, Camille Fauque war nicht lebendig.
Camille Fauque war ein Gespenst, das nachts arbeitete und tagsüber Steine hamsterte. Das sich langsam fortbewegte, wenig sprach und sich elegant verdrückte.
Camille Fauque war eine junge Frau, die man nur von hinten sah, zerbrechlich, nicht greifbar.
Man durfte dem Auftritt von vorhin nicht trauen, der den Anschein großer Leichtigkeit hatte. So einfach. So unbefangen. Camille Fauque log. Sie begnügte sich damit, andere hinters Licht zu führen, sie zwang sich, nötigte sich und antwortete mit »hier«, um nicht aufzufallen.
Trotzdem dachte sie noch einmal an den Arzt. Seine Handynummer war ihr völlig schnuppe, aber sie überlegte, ob sie vielleicht eine Chance hatte vorbeiziehen lassen. Er wirkte geduldig, dieser Mensch, und aufmerksamer als die anderen. Vielleicht hätte sie … Sie hätte auch beinahe … Sie war müde, sie hätte ebenfalls die Ellbogen auf den Schreibtisch stützen und ihm die Wahrheit erzählen sollen. Ihm sagen, daß sie nichts mehr aß oder so wenig, weil die Steine den ganzen Platz in ihrem Bauch einnahmen. Daß sie jeden Tag mit dem Gefühl aufwachte, auf Kies zu kauen, daß sie noch nicht die Augen geöffnet hatte und schon erstickte. Daß die Welt um sie herum schon keine Rolle mehr spielte und daß jeder Tag ein großes Gewicht war, das sie nicht hochzuheben vermochte. Also weinte sie. Nicht, weil sie traurig war, sondern um alles hinter sich zu bringen. Die Tränen, die Flüssigkeit halfen ihr schließlich, die Steine zu verdauen und wieder durchzuatmen.
Hätte er ihr zugehört? Hätte er sie verstanden? Natürlich. Und genau deshalb hatte sie geschwiegen.
Sie wollte nicht wie ihre Mutter enden. Sie weigerte sich, ins selbe Boot zu steigen. Wenn sie anfing, wußte sie nicht, wohin es sie führen könnte. Zu weit, viel zu weit, zu tief und ins Dunkel. Diesmal hatte sie nicht die Kraft, sich umzudrehen.
Andere hinters Licht zu führen, ja, aber nicht sich umzudrehen.
Sie betrat den Supermarkt bei sich im Haus und zwang sich, ein paar Lebensmittel zu kaufen. Sie tat es dem wohlwollenden jungen Arzt zuliebe und Mamadous Lachen. Das laute Lachen dieser Frau, die bescheuerte Arbeit bei Proclean, die Bredart, die abstrusen Geschichten von Carine, die Anschisse, die geschnorrten Zigaretten, die körperliche Erschöpfung, die albernen Lachkrämpfe und die bisweilen feindselige Stimmung, das alles half ihr zu leben. Half ihr zu leben, ja.
Sie strich mehrfach um die Regale, bevor sie sich für Bananen, vier Joghurts und zwei Flaschen Wasser entschied.
Da sah sie den komischen Kauz aus ihrem Haus. Den seltsamen großen Jungen, dessen Brille mit Pflaster geflickt war, der Hochwasserhosen trug und die Umgangsformen eines Marsmenschen an den Tag legte. Kaum hatte er einen Artikel in die Hand genommen, stellte er ihn wieder hin, ging ein paar Schritte weiter, besann sich eines Besseren, nahm ihn wieder in die Hand, schüttelte den Kopf und verließ überstürzt die Schlange an der Kasse, wenn er schon an der Reihe war, um ihn wieder zurückzustellen. Einmal hatte sie ihn sogar aus dem Laden kommen und wieder hineingehen sehen, um das Glas Mayonnaise zu kaufen, das er sich kurz zuvor versagt hatte. Ein trauriger Clown, der zur allgemeinen Belustigung beitrug, vor den Verkäuferinnen stotterte und ihr das Herz zerriß.
Sie begegnete ihm mitunter auf der Straße oder vor der Toreinfahrt, und alles war nur mehr Komplikation, innerer Aufruhr und Beklemmung. Auch diesmal stand er stöhnend vor dem Zahlencode an der Tür.
»Gibt’s Probleme?« fragte sie.
»Ah! Oh! Eh! Pardon!« Er verrenkte sich die Hände. »Guten Abend, Mademoiselle, entschuldigen Sie bitte, daß ich … ah … Sie belästige, ich … Ich belästige Sie, nicht wahr?«
Schrecklich war das. Sie wußte nie, ob sie lachen oder Mitleid haben sollte. Diese krankhafte Scheu, seine hochgeschraubte Art zu reden, die Wörter, die er wählte, und seine Bewegungen, die von einer anderen Welt zu kommen schienen, machten sie entsetzlich beklommen.
»Nein, nein, kein Problem! Haben Sie den Code vergessen?«
»Teufel, nein. Vielmehr, nicht daß ich wüßte … vielmehr, ich … ich habe die Dinge noch nicht aus dieser Warte betrachtet. Mein Gott, ich …«
»Sie haben ihn vielleicht geändert?«
»Ist das Ihr Ernst?« fragte er, als würde sie ihm das Ende der Welt verkünden.
»Das sehen wir gleich … 342B7 …«
Das Klicken der Tür war zu hören.
»Oh, ich bin beschämt … ich bin beschämt … Ich … Genau das habe ich auch gedrückt. Das verstehe ich nicht.«
»Kein Problem«, sagte sie und stemmte sich gegen die Tür.
Er machte eine abrupte Bewegung, um an ihrer Stelle die Tür aufzustoßen, verfehlte jedoch, als er mit dem Arm über sie greifen wollte, sein Ziel und verpaßte ihr einen heftigen Schlag auf den Hinterkopf.
»Oh Schande! Ich habe Ihnen doch nicht weh getan? Was bin ich aber auch ungeschickt, wahrhaftig, ich bitte Sie um Verzeihung … Ich …«
»Kein Problem«, wiederholte sie zum dritten Mal.
Er rührte sich nicht von der Stelle.
»Hm«, bat sie ihn schließlich, »könnten Sie Ihren Fuß anheben, Sie zerquetschen mir gerade den Knöchel, und das tut furchtbar weh.«
Sie lachte. Ein nervöses Lachen.
Als sie drinnen waren, eilte er zur Glastür voraus, damit sie ungehindert durchgehen konnte:
»Tut mir leid, aber ich muß dort lang«, sagte sie bedauernd und zeigte auf den Hinterhof.
»Wohnen Sie im Hof?«
»Eh … nicht direkt … eher unterm Dach.«
»Ah! Hervorragend.« Er zerrte am Henkel seiner Tasche, der sich am Messinggriff verfangen hatte. »Das … das ist gewiß sehr angenehm.«
»Eh … ja«, sagte sie mit einer Grimasse und ging rasch weiter, »so kann man es auch sehen.«
»Einen schönen Abend noch, Mademoiselle«, rief er ihr hinterher, »und … grüßen Sie Ihre Eltern von mir!«
Ihre Eltern. Der Typ war wohl debil. Sie erinnerte sich, wie sie ihn einmal nachts, denn sie kam für gewöhnlich mitten in der Nacht nach Hause, im Eingangsbereich überrascht hatte, im Schlafanzug, mit Jagdstiefeln und einer Dose Trockenfutter in der Hand. Er war ganz aufgewühlt und fragte sie, ob sie nicht eine Katze gesehen hätte. Sie verneinte und ging auf der Suche nach besagtem Kater ein paar Schritte mit ihm durch den Hof. »Wie sieht er denn aus?« erkundigte sie sich, »Bedaure, das weiß ich nicht«, »Sie wissen nicht, wie Ihre Katze aussieht?« Er stand wie angewurzelt da: »Wie soll ich das wissen? Ich habe noch nie eine Katze gehabt!« Sie war völlig verdutzt gewesen und hatte ihn kopfschüttelnd stehenlassen. Der Kerl war entschieden zu durchgeknallt.
»Die bessere Gegend.« Sie dachte noch einmal an Carines Kommentar, als sie die erste von hundertzweiundsiebzig Stufen erklomm, die sie von ihrem Verschlag trennten. Die bessere Gegend, stimmt schon. Sie wohnte im siebten Stock der Hintertreppe eines stattlichen Wohnhauses, das zum Champ-de-Mars ging, und so gesehen konnte man tatsächlich sagen, daß sie nobel wohnte, denn wenn sie auf einen Schemel kletterte und sich gefährlich weit nach rechts aus dem Fenster lehnte, konnte sie tatsächlich die Spitze des
Eiffelturms sehen. Was jedoch den Rest anging, meine Liebe, was den Rest anging, war dem nicht wirklich so.
Sie hielt sich am Geländer fest, keuchte schwer und zog die Wasserflaschen hinter sich her. Sie versuchte, nicht stehenzubleiben. Niemals. Auf keinem Stockwerk. Einmal nachts war es ihr passiert, und sie konnte nicht wieder aufstehen. Sie hatte sich im vierten Stock hingesetzt und war mit dem Kopf auf den Knien eingeschlafen. Ein qualvolles Aufwachen war das gewesen. Sie war völlig durchgefroren und hatte eine Weile gebraucht, bis sie wußte, wo sie war.
Aus Furcht vor einem Gewitter hatte sie das Oberlicht geschlossen, bevor sie ging, jetzt seufzte sie beim Gedanken an die Backofenhitze dort oben. Wenn es regnete, wurde sie naß, wenn es schön war wie heute, erstickte sie, und im Winter schlotterte sie. Camille kannte die klimatischen Gegebenheiten in- und auswendig, da sie schon seit über einem Jahr hier wohnte. Sie beklagte sich nicht, dieses schäbige Nest war ihr unverhofft zugefallen, und sie erinnerte sich noch an Pierre Kesslers betretenes Gesicht, als er die Tür zu der Rumpelkammer vor ihr aufstieß und ihr den Schlüssel hinhielt.
Es war winzig, dreckig, zugestellt und eine glückliche Fügung.
Als er sie eine Woche zuvor auf der Schwelle seiner Wohnungstür empfangen hatte, ausgehungert, verstört und still, hatte Camille Fauque ein paar Nächte auf der Straße hinter sich.
Er hatte es zunächst mit der Angst bekommen, als er den Schatten auf dem Treppenabsatz sah:
»Pierre?«
»Wer sind Sie?«
»Pierre«, stöhnte die Stimme.
»Wer sind Sie?«
Er drückte auf den Lichtschalter, und seine Angst wurde noch größer:
»Camille? Bist du’s?«
»Pierre«, schluchzte sie und schob einen kleinen Koffer vor sich her, »ihr müßt das hier für mich aufbewahren. Das sind meine Utensilien, versteht ihr, mir werden sie bestimmt geklaut. Alles wird mir geklaut. Alles, alles … Ich will nicht, daß sie mir meine Utensilien wegnehmen, sonst krepier ich … Versteht ihr? Ich krepiere.«
Er glaubte, sie phantasiere:
»Camille! Wovon sprichst du denn? Und wo kommst du her? Komm rein!«
Mathilde war hinter ihm aufgetaucht, und die junge Frau brach auf dem Fußabtreter zusammen.
Sie zogen sie aus und legten sie in das hintere Zimmer. Pierre Kessler hatte einen Stuhl zu ihr ans Bett gezogen und betrachtete sie beklommen.
»Schläft sie?«
»Scheint so.«
»Was ist passiert?«
»Ich weiß es nicht.«
»Sieh nur, in was für einem Zustand sie ist!«
»Pssst.«
Sie wachte einen Tag später mitten in der Nacht auf und ließ ganz langsam Badewasser einlaufen, um sie nicht zu wecken. Pierre und Mathilde, die nicht schliefen, hielten es für ratsamer, sie in Ruhe zu lassen. Sie ließen sie einige Tage bei sich wohnen, gaben ihr einen Zweitschlüssel und stellten ihr keine Fragen. Dieser Mann und diese Frau waren ein Segen.
Als er ihr vorschlug, sie in einem Dienstmädchenzimmer unterzubringen, das er nach dem Tod seiner Eltern in deren Haus behalten hatte, holte er unter dem Bett den kleinen Koffer im Schottenmuster hervor, der sie zu ihnen geführt hatte:
»Hier«, sagte er zu ihr.
Camille schüttelte den Kopf:
»Ich würde ihn lieber hier lass…«
»Kommt nicht in Frage«, unterbrach er sie sofort, »den nimmst du mit. Der hat bei uns nichts zu suchen!«
Mathilde begleitete sie zu einem Verbrauchermarkt, half ihr, eine Lampe, eine Matratze, Bettwäsche, ein paar Töpfe, eine Elektroplatte und einen winzigen Kühlschrank auszusuchen.
»Hast du Geld?« fragte sie, bevor sie sie gehen ließ.
»Ja.«
»Meinst du, es wird gehen, Herzchen?«
»Ja«, wiederholte Camille und hielt die Tränen zurück.
»Möchtest du unseren Schlüssel behalten?«
»Nein, nein, es geht schon. Ich … was soll ich sagen … was …«
Sie heulte.
»Sag nichts.«
»Danke?«
»Ja«, sagte Mathilde und zog sie an sich, »danke, es geht schon, alles in Ordnung.«
Sie schauten ein paar Tage später bei ihr vorbei.
Das Treppensteigen hatte sie erschöpft, und sie ließen sich auf die Matratze sinken.
Pierre lachte, behauptete, dies erinnere ihn an seine Jugend, und stimmte »La Bohäää-me« an. Sie tranken aus Plastikbechern Champagner, und Mathilde zauberte aus einer großen Tasche einen Haufen herrlicher Leckereien hervor. Mit Unterstützung des Champagners und ihrer guten Laune trauten sie sich, ein paar Fragen zu stellen. Einige beantwortete sie, die beiden insistierten nicht.
Als sie sich anschickten zu gehen und Mathilde schon ein paar Stufen hinuntergegangen war, drehte sich Pierre Kessler um und packte sie an den Handgelenken:
»Du mußt arbeiten, Camille … Du mußt jetzt arbeiten.«
Sie schlug die Augen nieder:
»Ich habe das Gefühl, in letzter Zeit viel gemacht zu haben. Viel, viel …«
Er drückte noch fester zu, tat ihr beinahe weh.
»Das war keine Arbeit, und das weißt du genau!«
Sie sah auf und hielt seinem Blick stand:
»Habt ihr mir deshalb geholfen? Um mir das zu sagen?«
»Nein.«
Camille zitterte.
»Nein«, wiederholte er und ließ sie los, »nein. Red nicht solchen Unsinn. Du weißt genau, daß wir dich immer wie eine Tochter behandelt haben.«
»Verloren oder auserkoren?«
Er lächelte und fügte hinzu:
»Arbeite. Du hast sowieso keine Wahl.«
Sie schloß die Tür hinter sich, räumte ihr Puppengeschirr weg und fand unten in der Tasche einen dicken Katalog von Sennelier Künstlerbedarf. Dein Konto ist immer verfügbar … stand auf einem Post-it. Sie hatte nicht die Kraft, darin zu blättern, und trank die Flasche aus.
Sie hatte ihm gehorcht. Sie arbeitete.
Heute wischte sie die Scheiße der anderen weg, was ihr sehr zusagte.
Man kam vor lauter Hitze tatsächlich um. Super Josy hatte sie am Abend zuvor gewarnt: »Beschwert euch nicht, Mädels, wir erleben gerade unsere letzten schönen Tage, bald kommt der Winter, und wir werden uns den Hintern abfrieren! Also beschwert euch ja nicht!«
Sie hatte ausnahmsweise einmal recht. Es war Ende September, und die Tage wurden zusehends kürzer. Camille überlegte, daß sie sich dieses Jahr anders organisieren mußte, früher zu Bett gehen und am Nachmittag aufstehen, um die Sonne zu sehen. Sie war selbst von solch einem Gedanken überrascht und hörte mit einer gewissen Unbekümmertheit den Anrufbeantworter ab:
»Hier ist deine Mama. Das heißt …« kicherte die Stimme, »ich weiß nicht, ob du dir darüber im klaren bist, von wem die Rede ist. Deine Mama, weißt du? Das ist das Wort, das liebe Kinder aussprechen, wenn sie sich an ihre Erzeugerin wenden, glaube ich. Denn du hast eine Mutter, Camille, erinnerst du dich? Entschuldige, daß ich schlechte Erinnerungen in dir wachrufe, aber da es nun schon die dritte Nachricht ist, die ich dir seit Dienstag hinterlasse. Ich wollte nur wissen, ob wir immer noch zusammen ess…«
Camille würgte sie ab und stellte den Joghurt, den sie gerade angebrochen hatte, in den Kühlschrank zurück. Sie setzte sich im Schneidersitz hin, griff nach ihrem Tabak und versuchte, eine Zigarette zu drehen. Ihre Hände verrieten sie. Sie mußte mehrmals ansetzen, um das Papier nicht zu zerreißen. Konzentrierte sich auf ihre Bewegungen, als gäbe es auf der Welt nichts Wichtigeres, und biß sich die Lippen blutig. Es war zu ungerecht. Zu ungerecht, daß sie so litt, wegen eines Fetzen Papiers, wo sie fast einen normalen Tag hinter sich gebracht hatte. Sie hatte gesprochen, zugehört, gelacht, sich sogar gesellig gezeigt. Sie hatte vor dem Arzt kokettiert und Mamadou ein Versprechen gegeben. Das sah nach nicht viel aus, und doch … Es war lange her, daß sie zuletzt etwas versprochen hatte. Sehr lange. Und jetzt stießen ein paar Sätze aus einer Maschine sie vor den Kopf, zogen sie herunter und zwangen sie, sich hinzulegen, erdrückt, wie sie war, vom Gewicht irrsinniger Mengen Bauschutts.
5
»Monsieur Lestafier!«
»Ja, Chef!«
»Telefon …«
»Nein, Chef!«
»Was, nein?«
»Bin beschäftigt, Chef! Soll später noch mal anrufen.«
Der gute Mann schüttelte den Kopf und kehrte in das Kabäuschen zurück, das ihm hinter der Durchreiche als Büro diente.
»Lestafier!«
»Ja, Chef!«
»Es ist Ihre Großmutter.«
Kichern in der Versammlung.
»Sagen Sie ihr, daß ich zurückrufe«, wiederholte der junge Mann, der ein Stück Fleisch entbeinte.
»Nerven Sie nicht, Lestafier! Gehen Sie jetzt ans Telefon, verflucht noch mal! Ich bin hier doch nicht das Fräulein von der Post!«
Der junge Mann wischte sich die Hände an dem Geschirrtuch ab, das an seiner Schürze hing, fuhr sich mit dem Ärmel über die Stirn und sagte zu dem Jungen am Schneidebrett neben ihm, wobei er tat, als wollte er ihn abstechen:
»Du rührst hier nichts an, sonst … krrrr …«
»Schon gut«, meinte der andere, »geh deine Weihnachtsgeschenke bestellen, Omi wartet schon.«
»Blödmann.«
Er ging ins Büro und nahm seufzend den Hörer auf:
»Omi?«
»Franck, guten Tag. Es ist nicht deine Großmutter, Madame Carminot am Apparat.«
»Madame Carminot?«
»Jesses! War das schwer, dich aufzutreiben. Ich habe zuerst im Grands Comptoirs angerufen und erfahren, daß du dort nicht mehr arbeitest, dann habe ich …«
»Was ist los?« schnitt er ihr das Wort ab.
»Mein Gott, Paulette …«
»Moment mal. Bleiben Sie dran.«
Er stand auf, schloß die Tür, nahm den Hörer wieder auf, setzte sich, nickte, ganz blaß, suchte auf dem Schreibtisch nach etwas zum Schreiben, sagte noch ein paar Worte und legte auf. Er nahm seine Kochmütze ab, legte den Kopf in die Hände, schloß die Augen und verharrte einige Minuten in dieser Stellung. Der Chef betrachtete ihn durch die Glastür. Schließlich steckte er den Zettel in die Hosentasche und verließ das Büro.
»Alles in Ordnung, Junge?«
»Alles in Ordnung, Chef.«
»Nichts Schlimmes?«
»Der Oberschenkelhalsknochen …«
»Ach, das ist bei den alten Leutchen nicht selten. Meine Mutter hatte das vor zehn Jahren, und wenn Sie sie heute sehen würden … Wie eine Gemse!«
»Sagen Sie, Chef …«
»Hört sich an, als wollten Sie den Tag frei haben, was?«
»Nein, ich mache die Mittagsschicht und erledige die Vorbereitungen für heute abend in der Pause, aber dann würde ich gerne gehen.«
»Und wer kümmert sich heute abend ums warme Essen?«
»Guillaume. Der Junge schafft das.«
»Tatsächlich?«
»Ja, Chef.«
»Wer garantiert mir, daß er das kann?«
»Ich, Chef.«
Der Chef verzog das Gesicht, herrschte einen Jungen an, der gerade vorbeikam, und befahl ihm, das Hemd zu wechseln. Dann drehte er sich wieder zu seinem Chef de partie um und fügte hinzu:
»Ist gut, hauen Sie ab, aber ich warne Sie, Lestafier, wenn heute abend eine Sache schiefläuft, wenn ich eine Bemerkung machen muß, eine einzige nur, hören Sie? Dann fällt es auf Sie zurück, ist das klar?«
»Ja, hab verstanden, Chef.«
Er kehrte an seinen Platz zurück und nahm das Messer wieder in die Hand.
»Lestafier! Waschen Sie sich zuerst die Hände! Wir sind hier nicht auf dem Land!«
»Leck mich«, murmelte er und schloß die Augen. »Ihr könnt mich alle mal.«
Schweigend machte er sich wieder an die Arbeit. Nach einer Weile wagte sein Gehilfe einen Vorstoß:
»Alles in Ordnung?«
»Nein.«
»Ich hab gehört, was du dem Dicken erzählt hast … Der Oberschenkelhals, stimmt’s?«
»Ja.«
»Ist es schlimm?«
»Nee, glaub nicht, aber das Problem ist, daß ich ganz allein bin.«
»Ganz allein womit?«
»Mit allem.«
Guillaume verstand nicht, zog es aber vor, ihn mit seinen Sorgen in Ruhe zu lassen.
»Wenn du gehört hast, wie ich mit dem Alten gesprochen hab, dann hast du auch das mit heute abend kapiert?«
»Yes.«
»Kannst du’s mir garantieren?«
»Das muß sich auszahlen …«
Sie arbeiteten schweigend weiter, der eine über seine Kaninchen gebeugt, der andere über seine Lammrippen.
»Meine Maschine …«
»Ja?«
»Die leih ich dir am Sonntag.«
»Die neue?«
»Ja.«
»He«, pfiff der andere, »er mag seine Omi. Okay. Bin dabei.«
Franck hatte einen bitteren Zug um den Mund.
»Danke.«
»He?«
»Was ist?«
»Wo ist denn die Alte?«
»In Tours.«
»Dann brauchst du dein Bike doch am Sonntag, wenn du zu ihr willst?«
»Ich kann mich anders behelfen.«
Die Stimme des Chefs fuhr dazwischen:
»Ruhe, die Herren! Ruhe, bitte!«
Guillaume schärfte sein Messer und nutzte das Geräusch, um zu murmeln:
»Okay … Du kannst sie mir leihen, wenn die Alte wieder gesund ist.«
»Danke.«
»Sag das nicht. Ich werde dir dafür die Stelle stibitzen.«
Franck Lestafier schüttelte lächelnd den Kopf.
Er sprach kein Wort mehr. Die Schicht kam ihm länger vor als sonst. Es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren, er brüllte, wenn der Chef die Bons hereinschickte, und achtete darauf, daß er sich nicht verbrannte. Um ein Haar hätte er ein Rippenstück versaut und schimpfte ununterbrochen leise vor sich hin. Er dachte daran, wie beschissen sein Leben ein paar Wochen lang sein würde. Es war schon nicht ohne, an sie zu denken und sie zu besuchen, wenn sie gesund war, aber jetzt. Was für ein Schlamassel, verflucht. Das hatte gerade noch gefehlt. Er hatte sich eben erst ein sündhaft teures Motorrad gegönnt, mit einem endlos langen Kredit, und sich für zahlreiche Extraschichten verpflichtet, um die Raten zahlen zu können. Wo sollte er sie in alledem noch unterbringen? Na ja … Er wollte es sich nicht eingestehen, aber er freute sich auch über den glücklichen Zufall. Der dicke Titi hatte seine Maschine frisiert, und er würde sie auf der Autobahn ausprobieren können.
Wenn alles gutging, würde er seinen Spaß haben und wäre in gut einer Stunde da. Er blieb während der Pause also allein mit den Tellerwäschern in der Küche. Rührte seinen Fond, machte eine Bestandsaufnahme seiner Waren, numerierte die Fleischstücke durch und hinterließ Guillaume eine lange Nachricht. Er hatte nicht die Zeit, noch einmal zu Hause vorbeizuschauen, er duschte in der Umkleide, suchte nach etwas, um sein Visier zu reinigen, und zog konfus davon.
Glücklich und sorgenvoll zugleich.
6
Es war noch keine sechs Uhr, als er sein Motorrad auf dem Krankenhausparkplatz abstellte.
Die Dame am Empfang teilte ihm mit, daß die Besuchszeit vorbei sei und er am nächsten Tag ab zehn Uhr wiederkommen könne. Er insistierte, sie wurde bockig.
Er legte seinen Helm und seine Handschuhe auf die Theke:
»Warten Sie, warten Sie … Sie haben nicht ganz verstanden …« versuchte er es, ohne sich aufzuregen, »ich komme aus Paris und muß nachher wieder zurück, wenn Sie mich also …«
Eine Krankenschwester kam vorbei:
»Was ist hier los?«
Sie gefiel ihm besser.
»Guten Tag, eh … entschuldigen Sie, daß ich störe, aber ich muß zu meiner Großmutter, die gestern als Notfall hier eingeliefert wurde, und ich …«
»Ihr Name?«
»Lestafier.«
»Oh! Ja!« Sie machte Ihrer Kollegin ein Zeichen. »Kommen Sie mit.«
Sie erklärte ihm kurz die Situation, sprach über die Operation und die voraussichtliche Genesungsdauer und befragte ihn zu Details in der Lebensführung der Patientin. Er konnte ihren Ausführungen kaum folgen, war vom Geruch des Ortes und dem Motorengeräusch, das noch in seinem Ohr nachhallte, wie benommen.
»Hier ist Ihr Enkel!« verkündete die Krankenschwester fröhlich, als sie die Tür öffnete. »Sehen Sie? Ich hatte Ihnen ja gesagt, daß er kommt! Gut, ich lasse Sie jetzt allein«, fügte sie hinzu, »schauen Sie hinterher noch mal bei mir vorbei, sonst kommen Sie hier nicht raus.«
Er hatte nicht die Geistesgegenwart, ihr zu danken. Was er dort im Bett vor sich sah, brach ihm das Herz.
Er wandte sich erst einmal ab, um seine Fassung wiederzuerlangen. Zog seine Lederjacke aus, seinen Pulli, und suchte nach einer Stelle, an der er sie aufhängen konnte.
»Es ist warm hier, was?«
Seine Stimme klang seltsam.
»Alles in Ordnung?«
Die alte Frau, die tapfer versuchte, ihm zuzulächeln, schloß die Augen und fing an zu heulen.
Sie hatten ihr das Gebiß rausgenommen. Ihre Wangen wirkten schrecklich eingefallen, und ihre Oberlippe war im Mund verschwunden.
»Na? Was machst du denn für Mätzchen?«
Dieser scherzhafte Ton verlangte ihm übermenschliche Kräfte ab.
»Ich habe mit der Krankenschwester gesprochen, weißt du, und sie hat gesagt, daß die Operation sehr gut verlaufen ist. Du hast jetzt ein riesiges Eisenstück in dir drin.«
»Sie werden mich in ein Pflegeheim stecken.«
»Nicht doch! Was erzählst du denn da? Du wirst ein paar Tage hierbleiben, dann kommst du in ein Reha-Zentrum. Das ist kein Pflegeheim, das ist fast wie ein Krankenhaus, nur kleiner. Sie werden dich aufpäppeln und dir wieder auf die Beine helfen, und dann, schwuppdiwupp, ab in den Garten mit der Paulette!«
»Wie lange wird das dauern?«
»Ein paar Wochen. Das hängt von dir ab. Du mußt dich anstrengen.«
»Kommst du mich besuchen?«
»Natürlich komm ich dich besuchen! Ich hab jetzt ein tolles Motorrad.«
»Du fährst doch aber nicht zu schnell?«
»Tz, wie eine Schnecke.«
»Lügner.«
Sie lächelte ihm unter Tränen zu.
»Hör auf damit, Omi, sonst fang ich auch noch an zu flennen.«
»Nein, du nicht. Du heulst doch nie. Nicht einmal als Kind, nicht einmal, als du dir den Arm verdreht hast, nie habe ich auch nur eine einzige Träne gesehen.«
»Hör trotzdem auf.«
Wegen der Schläuche traute er sich nicht, ihre Hand zu nehmen.
»Franck?«
»Ich bin da, Omi.«
»Ich habe Schmerzen.«
»Das ist normal, das geht vorbei, du mußt ein bißchen schlafen.«
»Es tut zu weh.«
»Ich sage es der Krankenschwester, bevor ich gehe, ich werde sie bitten, dir was zu geben.«
»Du gehst doch nicht gleich?«
»Aber nein!«
»Erzähl mir was. Erzähl mir von dir.«
»Warte, ich mach das Licht aus. Dieses Licht ist einfach zu gräßlich.«
Franck zog die Jalousien hoch, und das Zimmer, das nach Westen ging, wurde plötzlich in sanftes Dämmerlicht getaucht. Anschließend verrückte er den Sessel, um neben ihrer guten Hand zu sitzen, und nahm sie in seine.
Es fiel ihm anfangs schwer, die richtigen Worte zu finden, er, der noch nie ein großer Redner war und auch nicht gern von sich erzählte. Er fing mit Kleinigkeiten an, dem Wetter in Paris, der Umweltverschmutzung, der Farbe seiner Suzuki, der Beschriftung der Speisekarten und dergleichen.
Und dann, angeregt durch die Abenddämmerung und das fast schon friedliche Gesicht seiner Großmutter, wurden seine Erinnerungen präziser, seine Vertraulichkeiten größer. Er erzählte ihr, warum er sich von seiner Freundin getrennt hatte und wie die Frau hieß, die er im Visier hatte, von seinen Fortschritten in der Küche, seiner Müdigkeit. Er imitierte seinen neuen Mitbewohner und hörte seine Großmutter leise lachen.
»Du übertreibst.«
»Überhaupt nicht, ich schwör’s! Du wirst ihn kennenlernen, wenn du uns besuchen kommst, und dann wirst du sehen.«
»Ich habe überhaupt keine Lust, nach Paris zu fahren.«
»Dann kommen wir halt zu dir, und du kochst uns was Gutes!«
»Meinst du?«
»Ja. Du machst ihm deinen Kartoffelkuchen.«
»Nicht doch, das nicht … Das ist viel zu deftig.«
Anschließend erzählte er ihr von der Stimmung im Restaurant, den Rüffeln seines Chefs, dem Tag, an dem ein Minister in die Küche kam, um sie zu beglückwünschen, von der Geschicklichkeit des kleinen Takumi und vom Trüffelpreis. Er erzählte ihr, was es Neues von Momo und Madame Mandel gab. Schließlich schwieg er, um ihren Atemzügen zu lauschen, und merkte, daß sie eingeschlafen war. Er stand ganz leise auf.
Als er gerade aus der Tür gehen wollte, rief sie ihn zurück:
»Franck?«
»Ja?«
»Ich habe deiner Mutter nichts gesagt, weißt du?«
»Gut so.«
»Ich …«
»Psst, du mußt jetzt schlafen, je mehr du schläfst, um so schneller bist du wieder auf den Beinen.«
»War das richtig?«
Er nickte und legte den Finger auf den Mund.
»Ja. Mach dir keine Sorgen, schlaf jetzt.«
Das grelle Neonlicht traf ihn mit voller Wucht, und er brauchte ewig, um den Weg nach draußen zu finden. Die Krankenschwester von vorhin erwischte ihn im Flur.
Sie deutete auf einen Stuhl und schlug die entsprechende Akte auf. Dann stellte sie ihm zunächst ein paar praktische und verwaltungstechnische Fragen, aber der junge Mann reagierte nicht.
»Alles in Ordnung?«
»Müde.«
»Haben Sie noch nichts gegessen?«
»Nein, ich …«
»Warten Sie. Wir haben alles hier.«
Sie holte eine Dose Ölsardinen und ein Päckchen Zwieback aus der Schublade.
»Ist das okay?«
»Und Sie?«
»Kein Problem! Sie sehen ja! Ich habe unzählige Kekse! Einen Schluck Wein dazu?«
»Nein, danke. Ich hole mir eine Cola aus dem Automaten.«
»Nur zu, ich genehmige mir ein Gläschen, um Ihnen Gesellschaft zu leisten, aber nichts verraten, ja?«
Er aß ein wenig, antwortete auf ihre Fragen und sammelte seine Sachen wieder zusammen.
»Sie sagt, sie hat Schmerzen.«
»Morgen wird es ihr bessergehen. Wir haben der Infusion entzündungshemmende Mittel beigegeben, beim Aufwachen wird sie wieder bei Kräften sein.«
»Danke.«
»Das ist mein Job.«
»Ich meine die Sardinen.«
Er fuhr schnell, ließ sich ins Bett fallen und vergrub sein Gesicht im Kopfkissen, um nicht loszuheulen. Nicht jetzt. Er hatte so lange durchgehalten. Er konnte noch ein wenig kämpfen.
7
»Kaffee?«
»Nein, eine Cola, bitte.«
Camille trank sie in kleinen Schlucken. Sie hatte sich dem Restaurant gegenüber, in dem sie mit ihrer Mutter verabredet war, in ein Café gesetzt. Sie hatte die Hände neben dem Glas auf den Tisch gelegt, die Augen geschlossen und atmete langsam. Diese Essensverabredungen, so selten sie auch waren, zerfetzten ihr stets die Eingeweide. Sie kam zusammengefaltet, taumelnd und wie lebendig gehäutet wieder heraus. Als wäre ihre Mutter darum bemüht, mit sadistischer und möglicherweise – wirklich? – unbewußter Akribie den Schorf aufzukratzen und tausend kleine Wunden eine nach der anderen wieder freizulegen. Camille erblickte sie im Spiegel hinter den Flaschen, als sie durch die Tür des Jadeparadieses trat. Sie rauchte eine Zigarette, ging nach unten auf die Toilette, bezahlte die Rechnung und überquerte die Straße. Die Hände in den Taschen, die Taschen vor dem Bauch zusammengeschoben.
Sie sah die gebeugte Gestalt, setzte sich ihr gegenüber und atmete tief durch:
»Hallo, Mama!«
»Umarmst du mich nicht?« sagte die Stimme.
»Hallo, Mama«, artikulierte sie etwas langsamer.
»Wie geht’s?«
»Warum fragst du mich das?«
Camille hielt sich an der Tischkante fest, um nicht sofort wieder aufzustehen.
»Ich frage dich das, weil man sich das üblicherweise fragt, wenn man sich trifft.«
»Ich bin aber nicht ›man‹.«
»Was bist du dann?«
»Ich bitte dich, fang nicht wieder an, okay?«
Camille wandte sich ab und betrachtete die scheußliche Einrichtung aus Stuck und pseudoasiatischen Basreliefs. Die Schildpatt- und Perlmuttintarsien waren aus Plastik und der Chinalack aus vergilbtem Resopal.
»Schön hier.«
»Nein, es ist scheußlich. Aber stell dir vor, ich habe nicht das Geld, um dich ins Tour d’Argent einzuladen. Und außerdem, selbst wenn ich es hätte, würde ich es nicht tun. Bei dem bißchen, was du ißt, wäre das rausgeschmissenes Geld …«
Tolle Stimmung.
Sie gluckste verbittert:
»Wobei, du könntest ja leicht ohne mich dorthin gehen, du hast ja Geld! Des einen Not ist des anderen Bro…«
»Hör sofort auf damit«, drohte Camille, »hör auf damit, oder ich gehe. Wenn du Geld brauchst, sag es mir, und ich leih dir welches.«
»Stimmt ja, Mademoiselle arbeitet. Eine gute Arbeit. Und interessant dazu. Putzfrau … Unglaublich, bei jemand, der so schlampig ist. Du überraschst mich immer wieder, weißt du das?«
»Stop, Mama, Stop. So können wir nicht weitermachen. So geht es nicht, verstehst du? Das heißt, ich kann es nicht. Red von was anderem, bitte. Red von was anderem.«
»Du hattest eine tolle Stelle und hast alles verdorben.«
»Eine tolle Stelle … Ganz bestimmt … Und es tut mir nicht mal leid drum, ich war dort nicht glücklich.«
»Du hättest ja nicht dein ganzes Leben dort bleiben müssen. Und was soll das überhaupt heißen, ›glücklich‹? Ist das das neue Modewort? Glücklich! Glücklich! Wenn du glaubst, daß wir auf dieser Welt sind, um herumzutollen und Klatschmohn zu pflücken, dann bist du ziemlich naiv, mein Kind.«
»Nein, nein, sei ganz beruhigt, das glaube ich nicht. Ich habe eine gute Schule durchlaufen, und ich weiß, daß wir hier sind, um zu leiden. Das hast du mir oft genug eingetrichtert.«
»Haben Sie gewählt?« fragte die Bedienung.
Camille hätte sie am liebsten umarmt.
Ihre Mutter verteilte die Tabletten auf dem Tisch und zählte sie an den Fingern ab.
»Hast du es nicht satt, diesen ganzen Dreck zu schlucken?«
»Red nicht von Dingen, von denen du keine Ahnung hast. Wenn ich sie nicht hätte, wäre ich schon lange nicht mehr da …«
»Was weißt du schon darüber? Und warum setzt du diese fürchterliche Sonnenbrille nicht ab? Die Sonne scheint hier nicht.«
»Ich fühle mich besser damit. So sehe ich die Welt, wie sie ist.«
Camille beschloß, sie anzulächeln und ihr die Hand zu tätscheln. Das war die eine Möglichkeit, die andere war, ihr an die Gurgel zu springen und sie zu erwürgen.
Ihre Mutter wurde munterer, stöhnte ein wenig, sprach über ihre Einsamkeit, ihren Rücken, die Dummheit ihrer Kollegen und das Elend der Eigentumswohnungen. Sie aß mit Appetit und runzelte die Stirn, als ihre Tochter ein zweites Bier bestellte.
»Du trinkst zuviel.«
»Das stimmt! Komm, stoß mit mir an! Darauf, daß du einmal keinen Blödsinn redest.«
»Du besuchst mich nie.«
»Und das jetzt? Was mach ich hier gerade?«
»Immer das letzte Wort, he? Wie dein Vater.«
Camille erstarrte.
»Aha! Gefällt dir wohl nicht, wenn ich von ihm spreche?« verkündete sie triumphierend.
»Mama, bitte … Nicht diese Schiene.«
»Ich nehme die Schiene, die mir paßt. Ißt du deinen Teller nicht auf?«
»Nein.«
Ihre Mutter schüttelte zum Zeichen der Mißbilligung den Kopf.
»Sieh dich an. Man könnte meinen ein Skelett. Wenn du glaubst, das macht den Männern Appetit.«
»Mama.«
»Was ›Mama‹? Es ist doch normal, daß ich mir Sorgen um dich mache, man setzt keine Kinder in die Welt, um zuzusehen, wie sie sich zugrunde richten!«
»Wofür hast du mich dann in die Welt gesetzt?«
Noch während sie den Satz aussprach, wußte Camille, daß sie zu weit gegangen war und jetzt die große Szene über sich ergehen lassen durfte. Eine Nummer, die sie schon kannte, tausendmal wiederholt und perfekt einstudiert: Emotionale Erpressung, Krokodilstränen und Selbstmorddrohung. So oder so, es war unvermeidlich.
Ihre Mutter heulte, warf ihr vor, sie im Stich gelassen zu haben, genau wie ihr Vater vor fünfzehn Jahren, erinnerte sie daran, daß sie kein Herz habe, und fragte sie, was sie noch auf Erden hielt.
»Nenn mir einen einzigen Grund, weshalb ich noch hier sein sollte, einen einzigen?«
Camille drehte sich eine Zigarette.
»Hast du mich gehört?«
»Ja.«
»Und?«
»…«
»Danke, mein Schatz, danke. Deine Antwort könnte klarer nicht sein.«
Sie schniefte, legte zwei Restaurantmarken auf den Tisch und ging.
Es ja nicht zu schwer nehmen, der überstürzte Abgang war schon immer der Höhepunkt gewesen, gewissermaßen der Vorhang zur großen Szene.
In der Regel wartete der Künstler bis nach dem Dessert, doch zugegeben, heute waren sie beim Chinesen, und ihre Mutter mochte die Krapfen, die Litschis und den anderen Süßkram nicht sonderlich.
Ja, es nicht zu schwer nehmen.
Das war eine schwierige Übung, aber Camille hatte ihr kleines Survival-Kit schon lange beisammen. Sie verhielt sich folglich wie immer und versuchte, sich zu konzentrieren und im Geiste ein paar Weisheiten herunterzubeten. Ein paar einfache und vernünftige Sätze. Hastig zusammengeschusterte Krücken, die es ihr ermöglichten, sie weiterhin zu sehen. Weil diese erzwungenen Verabredungen, diese absurden, destruktiven Unterhaltungen schließlich sinnlos wären, wenn sie nicht die Gewißheit hätte, daß ihre Mutter dabei auf ihre Kosten kam. Denn leider kam Catherine Fauque dabei voll auf ihre Kosten. Den Kopf ihrer Tochter als Fußabtreter zu benutzen war ihr eine Genugtuung. Und auch wenn sie ihre Treffen häufig verkürzte, indem sie die Beleidigte spielte, war sie dennoch stets zufrieden. Zufrieden und gesättigt. Nahm ihre Selbstgerechtigkeit, ihre pathetischen Triumphe und ihre Portion Gemeinheiten bis zum nächsten Mal mit.
Camille hatte lange gebraucht, um dahinterzukommen, und sie war überdies nicht allein dahintergekommen. Sie hatte dabei Hilfe erhalten. Einige Menschen in ihrem Umfeld, vor allem früher, als sie noch zu jung war, um das Verhalten der Mutter zu durchschauen, hatten ihr Schlüssel an die Hand gegeben. Ja, aber das war früher gewesen, und all die Menschen, die über sie gewacht hatten, waren jetzt nicht mehr da.
Und heute war sie dran, die Kleine.
Und zwar richtig.
8
Der Tisch war abgeräumt worden, und das Restaurant leerte sich. Camille rührte sich nicht. Sie rauchte und bestellte einen Espresso nach dem anderen, um nicht vor die Tür gesetzt zu werden.
Ganz hinten im Lokal saß ein zahnloser Herr, ein alter Asiat, der mit sich selbst sprach und in sich hineinlachte.
Die junge Frau, die sie bedient hatte, stand hinter der Theke. Sie trocknete Gläser ab und wies ihn von Zeit zu Zeit in ihrer Sprache zurecht. Der Alte machte ein verdrießliches Gesicht, schwieg einen Moment und nahm seine idiotischen Selbstgespräche wieder auf.
»Schließen Sie?« fragte Camille.
»Nein«, antwortete sie und stellte dem Alten eine Schüssel hin, »wir geben kein Essen mehr aus, aber wir haben weiter geöffnet. Wollen Sie noch einen Espresso?«
»Nein, nein, danke. Kann ich noch etwas bleiben?«
»Aber ja doch, bleiben Sie! Solange Sie da sind, ist er beschäftigt!«
»Soll das heißen, daß ich ihn so zum Lachen bringe?«
»Sie oder jemand anders.«
Camille starrte den alten Mann an und erwiderte sein Lächeln.
Die Beklemmung, in der ihre Mutter sie zurückgelassen hatte, wich allmählich. Sie lauschte dem plätschernden Wasser und Töpfeklappern, das aus der Küche drang, dem Radio, den unverständlichen Refrains mit ihren schrillen Klängen, die die junge Frau tänzelnd mitsang, sie beobachtete den Alten, der mit seinen Stäbchen lange Suppennudeln aus der Schüssel fischte und sich dabei das ganze Kinn mit Brühe verschmierte, und hatte plötzlich das Gefühl, sich im Eßzimmer eines richtigen Wohnhauses zu befinden.
Außer einem Espresso und ihrem Päckchen Tabak lag nichts mehr vor ihr auf dem Tisch. Sie packte alles auf den Nachbartisch und fing an, das Tischtuch zu glätten.
Langsam, ganz langsam, strich sie mit der flachen Hand über das minderwertige Papier, das spröde und stellenweise fleckig war.
Minutenlang wiederholte sie diese Bewegung.
Ihr Gemüt beruhigte sich, und ihr Herz fing an, schneller zu schlagen.
Sie hatte Angst.
Sie mußte es versuchen. Du mußt es versuchen. Ja, aber es ist schon so lange her, daß.
Pst, flüsterte sie sich zu, pst, ich bin da. Es wird alles gutgehen, Herzchen. Ganz ruhig, jetzt oder nie. Mach schon. Hab keine Angst.
Sie hielt die Hand ein paar Zentimeter über den Tisch und wartete, bis sie aufhörte zu zittern. Gut so, siehst du. Sie griff nach ihrem Rucksack und wühlte darin, hier war er.
Sie holte den Griffelkasten heraus und stellte ihn auf den Tisch. Machte ihn auf, nahm einen kleinen rechteckigen Stein heraus und fuhr sich damit über die Wange. Er war sanft und lauwarm. Anschließend rollte sie einen blauen Stoff auseinander und holte einen Tintenriegel heraus. Ein strenger Geruch nach Sandelholz stieg ihr in die Nase; zum Schluß rollte sie ein Deckchen aus Bambusstäbchen auseinander, in dem zwei Pinsel ruhten.
Der dickere war aus Ziegenhaar, der andere, viel feiner, aus Schweinsborsten.
Sie stand auf, nahm eine Wasserkaraffe und zwei Telefonbücher von der Theke und verneigte sich kurz vor dem verrückten Alten.
Sie legte die Telefonbücher auf ihren Stuhl, so daß sie den Arm ausstrecken konnte, ohne den Tisch zu berühren, träufelte etwas Wasser auf den Muldenreibstein und fing an, ihre Tinte zu zerreiben. Sie hatte die Stimme ihres Lehrers im Ohr: Dreh deinen Stein ganz langsam, kleine Camille. Nein! Noch langsamer! Und noch länger! Zweihundertmal vielleicht, denn, siehst du, dabei machst du dein Handgelenk geschmeidig und bereitest deinen Geist auf große Dinge vor. Denk an nichts mehr, sieh mich nicht an, Kind! Konzentrier dich auf dein Handgelenk, es wird dir den ersten Strich diktieren, und einzig der erste Strich zählt, er ist es, der deiner Zeichnung Leben einhaucht.
Als die Tinte soweit war, widersetzte sie sich ihm und begann mit kleinen Übungen in einer Ecke der Tischdecke, um sich weit zurückliegende Erinnerungen vor Augen zu führen. Sie machte zuerst fünf Farbkleckse, von tiefschwarz bis stark verdünnt, um sich die Farben der Tinte wieder in Erinnerung zu rufen, probierte anschließend verschiedene Striche aus und stellte fest, daß sie sie beinahe alle vergessen hatte. Ein paar waren ihr noch gegenwärtig: der Schweif, die Schwertklinge, die Drachenkralle und der Spatel. Es folgten die Punkte. Ihr Lehrmeister hatte ihr über zwanzig verschiedene beigebracht, ihr fielen nur noch vier ein: der Melonenkern, die Mandel, die Pflaume, der hängende Tropfen.
Genug. Du bist soweit. Sie nahm den feineren Pinsel zwischen Daumen und Mittelfinger, hielt den Arm über die Tischdecke und wartete noch ein paar Sekunden.
Der Alte, dem von dem ganzen Zirkus nichts entgangen war, ermunterte sie, indem er die Augen schloß.
Mit einem Spatz erwachte Camille Fauque aus einem tiefen Schlaf, es folgten zwei, dann drei, dann ein ganzer Vogelschwarm spöttisch dreinschauender Vögel.
Sie hatte seit über einem Jahr nichts mehr gezeichnet.
*
Als Kind hatte sie wenig gesprochen, weniger noch als heute. Ihre Mutter hatte sie zum Klavierunterricht gezwungen, was sie haßte. Einmal, als ihr Lehrer zu spät kam, hatte sie einen dicken Filzschreiber genommen und sorgfältig auf jede Taste einen Finger gemalt. Ihre Mutter hatte ihr fast den Hals umgedreht, und ihr Vater war, um alle zu beruhigen, am Wochenende darauf mit der Adresse eines Malers zurückgekommen, der einmal pro Woche Unterricht gab.
Ihr Vater starb wenig später, und Camille machte nie wieder den Mund auf. Nicht einmal in den Malstunden mit Mister Doughton (sie sagte Dugton), den sie sehr mochte, sagte sie ein Wort.
Der alte Engländer störte sich nicht daran, zeigte ihr weiterhin Motive und brachte ihr schweigend Techniken bei. Er machte sie vor, und sie ahmte ihn nach, wobei sie sich damit begnügte, zu nicken oder den Kopf zu schütteln. Zwischen ihnen, und nur an diesem Ort, war alles in Ordnung. Ihr Schweigen schien ihnen sogar zupaß zu kommen. Er brauchte nicht auf Französisch nach Worten zu suchen, und sie konzentrierte sich besser als ihre Mitschüler.
Eines Tages jedoch, als die anderen Schüler bereits gegangen waren, brach er mit ihrem schweigenden Einvernehmen und richtete das Wort an sie, als sie sich gerade mit Pastellfarben beschäftigte:
»Weißt du, Camille, an wen du mich erinnerst?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Tja, du erinnerst mich an einen chinesischen Maler, der Chu Ta hieß. Willst du, daß ich dir seine Geschichte erzähle?«
Camille nickte, aber er hatte sich umgedreht, um seinen Wasserkessel auszustellen.
»Ich höre dich nicht, Camille. Willst du nicht, daß ich sie dir erzähle?«
Er starrte sie jetzt an.
»Antworte mir, Mädchen.«
Sie warf ihm einen finsteren Blick zu.
»Wie bitte?«
»Doch«, gab sie schließlich von sich.
Er schloß die Augen zum Zeichen seiner Zufriedenheit, schenkte sich einen Tee ein und setzte sich neben sie.
»Als Kind war Chu Ta sehr glücklich.«
Er nahm einen Schluck.
»Er war ein Prinz der Ming-Dynastie. Seine Familie war sehr reich und sehr mächtig. Sein Vater und sein Großvater waren berühmte Maler und Kalligraphen, und der kleine Chu Ta hatte ihr Talent geerbt. Stell dir vor, eines Tages, als er noch keine acht Jahre alt war, zeichnete er eine Blüte, eine einfache Lotusblüte, die auf einem Teich schwamm. Seine Zeichnung war sehr schön, so schön, daß seine Mutter beschloß, sie im Salon aufzuhängen. Sie behauptete, dank der Zeichnung spüre man eine frische Brise in dem großen Raum, und man könne die Blume sogar riechen, wenn man an ihr vorbeiging. Kannst du dir das vorstellen? Daß man sie sogar riechen konnte! Und seine Mutter war gewiß sehr anspruchsvoll. Mit einem Ehemann und einem Vater als Maler hatte sie schon allerhand gesehen.«
Er beugte sich erneut über seinen Tee.
»So wuchs Ta in der Sorglosigkeit, der Freude und der Gewißheit heran, eines Tages ebenfalls ein großer Künstler zu werden. Doch ach, als er achtzehn war, übernahmen die Mandschu die Macht von den Ming. Die Mandschu waren grausame und brutale Menschen, die Maler und Schriftsteller nicht mochten. Folglich untersagten sie ihnen zu arbeiten. Das war das Schlimmste, was man ihnen antun konnte, wie du dir sicher vorstellen kannst. Die Familie von Chu Ta sollte keinen Frieden mehr erleben, und sein Vater starb vor Verzweiflung. Von einem Tag auf den anderen tat sein Sohn, der ein Lausebengel war und gerne lachte, sang, Dummheiten erzählte und lange Gedichte aufsagte, etwas Unglaubliches. He, wer kommt denn da?« fragte Mister Doughton und begann absichtlich eine lange einfältige Unterhaltung mit seiner Katze, die sich auf die Fensterbank gesetzt hatte.
»Was tat er?« flüsterte sie schließlich.
Er verbarg sein Lächeln in seinem buschigen Bart und fuhr fort, als wäre nichts gewesen:
»Er tat etwas Unglaubliches. Etwas, das du nie erraten wirst. Er beschloß, für immer zu schweigen. Für immer, hörst du? Kein einziges Wort sollte ihm je wieder über die Lippen kommen! Er war angewidert vom Verhalten seiner Mitmenschen, die sich von ihren Traditionen und ihrem Glauben lossagten, um bei den Mandschu gut angesehen zu sein, und wollte nie wieder das Wort an sie richten. Sollten sie zum Teufel gehen! Alle! Diese Sklaven! Diese Feiglinge! Er schrieb das Wort Stumm auf seine Haustür, und wenn gewisse Leute dennoch versuchten mit ihm zu reden, entfaltete er vor seinem Gesicht einen Fächer, auf den er ebenfalls Stumm geschrieben hatte, und wedelte damit in alle Richtungen, um sie zu vertreiben.«
Das kleine Mädchen hing an seinen Lippen.
»Das Problem ist, daß niemand leben kann, ohne sich mitzuteilen. Niemand. Das ist unmöglich. Also hatte Chu Ta, der wie jedermann, wie du und ich beispielsweise, viel zu erzählen hatte, eine geniale Idee. Er ging in die Berge, weit weg von all den Menschen, die ihn verraten hatten, und fing an zu zeichnen. Von nun an wollte er sich auf diese Weise mitteilen, mit dem Rest der Welt kommunizieren: mit Hilfe seiner Zeichnungen. Willst du sie sehen?«
Er holte ein großes schwarzweißes Buch aus seiner Bibliothek und legte es vor sie hin:
»Sieh nur, wie schön sie sind. Wie einfach. Nur ein Strich, und schon hast du … eine Blume, einen Fisch, einen Grashüpfer … Sieh dir diese Ente an, wie verärgert sie aussieht, und diese Berge dort, im Nebel. Sieh nur, wie er den Nebel gezeichnet hat, als wäre er nichts, nur Leere. Und diese Küken hier? Sie wirken so zart, daß man Lust hätte, sie zu streicheln. Siehst du, seine Tusche ist zart wie ein Flaum. Seine Tusche ist sanft.«
Camille lächelte.
»Willst du, daß ich dir beibringe, so zu zeichnen?«
Sie nickte.
»Willst du, daß ich dir das beibringe?«
»Ja.«
Als es soweit war, als er ihr gezeigt hatte, wie sie den Pinsel halten mußte, und ihr das mit dem so wichtigen ersten Strich erklärt hatte, blieb sie einen Moment ratlos sitzen. Sie hatte nicht ganz verstanden und glaubte, sie müßte die ganze Zeichnung in einem Zug ausführen, ohne die Hand hochzunehmen. Das war unmöglich.
Sie dachte lange über ein Motiv nach, sah sich um und streckte den Arm aus.
Sie machte einen langen, geschwungenen Strich, einen Buckel, eine Spitze, eine weitere Spitze, zog den Pinsel in einem langen Schwung nach unten und kehrte zum ersten Bogen zurück. Da ihr Lehrer nicht zusah, nutzte sie die Gelegenheit, um ein wenig zu schummeln, nahm den Pinsel hoch und fügte einen großen schwarzen Klecks und sechs kleine Striche hinzu. Sie wollte lieber ungehorsam sein, als eine Katze ohne Schnurrbart zu malen.
Malcolm, ihr Modell, schlief immer noch auf der Fensterbank, und Camille, getrieben von dem Wunsch nach Realitätstreue, beendete ihre Zeichnung mit einem schmalen Viereck um die Katze.
Anschließend stand sie auf, um die Katze zu streicheln, und als sie sich umdrehte, sah sie, daß ihr Lehrer sie mit sonderbarem Gesichtsausdruck, nahezu böse anstarrte:
»Hast du das gemacht?«
Er hatte ihrer Zeichnung also angesehen, daß sie den Pinsel mehrmals hochgenommen hatte. Sie zog eine Grimasse.
»Hast du das gemacht, Camille?«
»Ja.«
»Komm her zu mir, bitte.«
Sie ging zu ihm, etwas beschämt, und setzte sich neben ihn.
Er weinte:
»Es ist großartig, was du da gemacht hast, weißt du das … Großartig. Man hört sie schnurren, deine Katze. Ach, Camille …«
Er hatte ein großes Taschentuch voller Farbkleckse hervorgeholt und schneuzte sich geräuschvoll.
»Hör mir zu, kleines Mädchen, ich bin bloß ein alter Mann und ein schlechter Maler obendrein, aber hör mir gut zu. Ich weiß, daß das Leben für dich nicht einfach ist, ich kann mir vorstellen, daß es zu Hause nicht immer schön ist, ich habe auch das mit deinem Papa gehört, aber … Nein, nicht weinen. Hier, nimm mein Taschentuch. Aber eins muß ich dir sagen: Menschen, die aufhören zu reden, werden verrückt. Chu Ta zum Beispiel, das habe ich dir vorhin nicht erzählt, ist verrückt geworden und auch sehr unglücklich. Sehr, sehr unglücklich und sehr, sehr verrückt. Erst im hohen Alter hat er wieder Frieden gefunden. Du wirst nicht warten, bis du so alt bist, nicht wahr? Versprich mir das. Du bist sehr begabt, weißt du das? Du bist die begabteste Schülerin, die ich je hatte, aber das ist nicht der Grund, Camille. Das ist nicht der Grund. Die Welt heutzutage ist nicht mehr so wie zu Chu Tas Zeiten, und du mußt wieder anfangen zu sprechen. Du mußt, verstehst du? Sonst sperren sie dich zusammen mit echten Verrückten ein, und kein Mensch wird je deine schönen Zeichnungen sehen.«
Sie wurden durch die Ankunft ihrer Mutter unterbrochen. Camille stand auf und teilte ihr mit rauher Stimme und in abgehackten Worten mit:
»Warte auf mich. Ich bin noch nicht fertig.«
Eines Tages, vor nicht allzu langer Zeit, erhielt sie ein Päckchen, das ungeschickt verschnürt und von einem kleinen Brief begleitet war:
Guten Tag,
ich heiße Eileen Wilson. Mein Name sagt vielleicht Ihnen nichts, aber ich war die Freundin von Cecil Doughton, der ihr Mallehrer früher war. Ich habe das Traurige, Ihnen mitzuteilen, daß Cecil uns verlassen hat vor zwei Monaten. Ich weiß, daß Sie es zu schätzen wissen, daß ich Ihnen sage (entschuldigen Sie mein schlecht Französisch), daß wir ihn in seinem Region Dartmoor beerdigt haben, die er sehr viel geliebt hat, in einem Friedhof, der ein schönen Blick hat. Ich habe seine Pinsel und Farben mit ihm in die Erde getan.
Vor dem Sterben hat er mich gebeten, Ihnen dieses zu geben. Ich glaube, er war glücklich, wenn sie beim Benutzen an ihn denken. Eileen W.
Camille konnte die Tränen nicht zurückhalten, als sie die chinesischen Zeichenutensilien ihres alten Lehrers sah, jene, die sie soeben benutzt hatte.
*
Neugierig kam die Bedienung an den Tisch, um die leere Tasse abzuräumen und dabei einen Blick auf die Tischdecke zu werfen. Camille hatte darauf eine Vielzahl von Bambusrohren gezeichnet. Stämme und Blätter waren am schwierigsten zu zeichnen. Ein Blatt, meine Kleine, ein einfaches Blatt, das sich im Wind bewegt, forderte seinen Meistern Jahre der Arbeit ab, ein ganzes Leben bisweilen. Spiel mit den Kontrasten. Du hast nur eine Farbe zur Verfügung, und doch kannst du alles darstellen. Konzentriere dich besser. Wenn du willst, daß ich dir eines Tages dein Siegel entwerfe, mußt du mir Blätter machen, die deutlich leichter sind als diese.
Das schlechte Papier wellte sich und saugte die Tinte viel zu schnell auf.
»Darf ich?« fragte die junge Frau.
Und hielt ihr ein Paket frischer Tischdecken hin. Camille wich zurück und legte ihre Arbeit auf den Boden. Der Alte stöhnte, die Bedienung fuhr ihn an.
»Was sagt er?«
»Er schimpft, weil er nicht sehen kann, was Sie gemacht haben.«
Sie fügte hinzu:
»Er ist mein Großonkel. Er ist gelähmt.«
»Sagen Sie ihm, das nächste ist für ihn.«
Die junge Frau kehrte zur Theke zurück und richtete einige Worte an ihn. Er beruhigte sich und betrachtete Camille voller Strenge.
Sie fixierte ihn lange, zeichnete dann über die ganze Tischdecke einen vergnügten kleinen Mann, der ihm ähnelte und der an einem Reisfeld entlanglief. Sie war noch nie in Asien gewesen, improvisierte aber im Hintergrund einen Berg im Nebel, Pinien, Felsen und sogar Chu Tas kleine Hütte auf einem Vorsprung. Sie hatte ihn mit seiner Nike-Mütze und der Trainingsjacke skizziert, jedoch mit nackten Beinen, nur mit dem traditionellen Lendenschurz bekleidet. Sie fügte noch ein paar Pfützen hinzu, die unter seinen Füßen spritzten, und ein paar Jungen, die ihm folgten.
Sie trat zurück, um ihre Arbeit zu begutachten.
Viele Details gefielen ihr zwar nicht, aber er sah glücklich aus, wirklich glücklich, also stellte sie einen Teller unter die Tischdecke, öffnete das Gläschen mit Zinnoberrot und drückte ihr Siegel rechts in die Mitte. Sie stand auf, räumte den Tisch des Alten ab, holte ihre Zeichnung und legte sie vor ihn hin.
Er reagierte nicht.
Oje, dachte sie, da habe ich mir wohl einen Patzer geleistet.
Als seine Nichte aus der Küche kam, gab er ein langes, leidvolles Lamento von sich.
»Es tut mir leid«, sagte Camille, »ich dachte …«
Die Frau bedeutete ihr zu schweigen, holte eine Brille mit dicken Brillengläsern hinter der Theke hervor und schob sie unter die Mütze. Er beugte sich feierlich über das Bild und fing an zu lachen. Ein kindliches Lachen, kristallklar und fröhlich. Er weinte und lachte dann wieder, schaukelte hin und her, die Arme vor der Brust verschränkt.
»Er möchte mit Ihnen Sake trinken.«
»Gern.«
Sie holte eine Flasche, er brüllte, sie seufzte und verschwand in der Küche.
Sie kam mit einer anderen Flasche zurück, gefolgt vom Rest der Familie. Einer älteren Frau, zwei Männern um die Vierzig und einem Jugendlichen. Lachen, Rufe, Verbeugungen und Gefühlsausbrüche jeglicher Art. Die Männer klopften ihr auf die Schulter, und der Junge klatschte mit ihr ab, wie Sportler es tun.
Anschließend kehrten alle auf ihre Posten zurück, und die junge Frau stellte zwei Gläser vor sie hin. Der Alte prostete ihr zu und leerte sein Glas, bevor er es von neuem füllte.
»Ich warne Sie, er wird Ihnen sein ganzes Leben erzählen.«
»Kein Problem«, sagte Camille, »ohhh … ganz schön stark.«
Die junge Frau zog sich lachend zurück.
Jetzt waren sie allein. Der Alte schwatzte, und Camille lauschte ihm voller Hingabe und nickte nur, wenn er ihr die Flasche hinhielt.
Sie hatte Mühe, aufzustehen und ihre Sachen zusammenzupacken. Nachdem sie sich unzählige Male verbeugt hatte, um sich von dem Alten zu verabschieden, kam ihr die junge Frau an der Tür zu Hilfe und zog am Knauf, den sie seit geraumer Zeit unter albernem Gelächter unerbittlich drückte.
»Sie sind hier zu Hause, verstanden? Sie können zum Essen kommen, wann immer Sie wollen. Wenn Sie nicht kommen, wird er böse sein … Und traurig.«
Als sie zur Arbeit kam, war sie völlig betrunken.
Samia war ganz aufgeregt:
»He, hast du einen Typen kennengelernt?«
»Ja«, gab Camille verschämt zu.
»Ehrlich?«
»Ja.«
»Nee … Ist nicht wahr. Wie ist er? Süß?«
»Total süß.«
»Oh, cool … ie alt?«
»Zweiundneunzig.«
»Quatsch nicht, du Nuß, wie alt?«
»He, Mädels … ollt ihr euch mal bewegen!«
Die Josy zeigte auf das Zifferblatt ihrer Uhr.
Camille zog glucksend davon und verfing sich mit den Füßen im Schlauch ihres Staubsaugers.
9
Mehr als drei Wochen waren vergangen. Franck, der jeden Sonntag in einem Restaurant auf den Champs-Élysées Extraschichten schob, fuhr montags zu seiner Großmutter ans Krankenbett.
Sie befand sich mittlerweile in einem Reha-Zentrum, wenige Kilometer nördlich von Paris, und wartete seit Tagesanbruch auf seinen Besuch.
Er hingegen mußte sich den Wecker stellen. Er schlurfte wie ein Zombie in die Eckkneipe, trank zwei, drei Kaffee hintereinander weg, schwang sich aufs Motorrad und schlief auf dem schrecklichen schwarzen Kunstledersessel neben ihr wieder ein.
Wenn ihr Essenstablett kam, legte die alte Frau den Zeigefinger auf den Mund und deutete mit dem Kopf auf das große Baby, das ihr zusammengerollt Gesellschaft leistete. Sie bedachte ihn mit einem zärtlichen Blick und sorgte dafür, daß sein Oberkörper von der Jacke ganz bedeckt war.
Sie war glücklich. Er war da. Ganz da. Nur für sie.
Sie traute sich nicht, die Krankenschwester zu rufen, damit sie ihr Bett hochstellte, hielt die Gabel vorsichtig in der Hand und aß leise. Sie versteckte Dinge in ihrem Nachttisch, Brot, Käse und ein paar Früchte, die sie ihm geben wollte, wenn er wieder aufwachte. Anschließend schob sie das Tablett vorsichtig weg und verschränkte lächelnd die Hände vor dem Bauch.
Sie schloß die Augen und döste ein wenig vor sich hin, eingelullt in die Atemzüge ihres Jungen und Erinnerungen an die Vergangenheit. Sie hatte ihn schon so viele Male verloren. So viele Male. Ihr war, als hätte sie ihr Leben damit zugebracht, ihn zu suchen. Hinversteckt oder vor dem Fernseher sitzend, dann natürlich in der Kneipe und jetzt auf kleinen Zetteln, auf die er Telefonnummern geschrieben hatte, die niemals die richtigen waren.
Dabei hatte sie alles in ihrer Macht Stehende getan. Hatte ihn ernährt, umarmt, gestreichelt, beruhigt, gescholten, bestraft und getröstet, aber es hatte nichts genützt. Kaum konnte er laufen, der Kleine, nahm er Reißaus, und sobald er drei Barthaare hatte, war es vorbei. War er fort.
In ihren Träumen verzog sie mitunter das Gesicht. Ihre Lippen zitterten. Zuviel Kummer, zuviel Elend und so viel Leid. Es hatte so schwere Zeiten gegeben, so schwere Zeiten … Aber nein, daran durfte sie nicht denken, außerdem wurde er wach, die Haare zerzaust, die Wange voller Striemen von den Sesselnähten:
»Wie spät ist es?«
»Gleich fünf.«
»Oh Scheiße, so spät schon?«
»Franck, warum sagst du immer Scheiße?«
»Scheibenkleister, so spät schon?«
»Hast du Hunger?«
»Es geht, eher Durst. Ich dreh mal ne Runde.«
Vorbei, dachte die alte Dame, vorbei.
»Gehst du?«
»Aber nein, ich geh noch nicht, Sch… Scheibenkleister!«
»Wenn du einen rothaarigen Mann im weißen Kittel siehst, könntest du ihn fragen, wann ich hier herauskomme?«
»Ja, ja«, sagte er und verschwand durch die Tür.
»Ein Großer mit einer Brille und einem …«
Er war bereits auf dem Flur.
»Und?«
»Ich hab ihn nicht gesehen.«
»So?«
»Komm schon, Omi«, sagte er sanft zu ihr, »du wirst doch nicht schon wieder heulen?«
»Nein, aber ich … Ich denke an meine Katze, an meine Vögel … Und außerdem hat es die ganze Woche geregnet, und ich mache mir Sorgen um meine Gartengeräte. Da ich sie nicht weggeräumt habe, werden sie ganz bestimmt rosten.«
»Ich fahre auf dem Rückweg vorbei und packe sie weg.«
»Franck?«
»Ja?«
»Nimm mich mit.«
»He! Nicht schon wieder. Ich kann nicht mehr.«
Sie fing sich wieder:
»Die Geräte …«
»Was?«
»Sie müßten mit Rinderfett eingerieben werden.«
Er sah sie an und machte dicke Backen:
»Wenn ich Zeit habe, okay? Gut. Das ist noch nicht alles, wir zwei haben noch unsere Sportstunde vor uns. Wo ist denn dein Wägelchen?«
»Ich weiß nicht.«
»Omi.«
»Hinter der Tür.«
»Komm schon, alte Frau, ich werde dir Vögel zeigen!«
»Pfff, hier gibt es keine. Hier gibt’s nur Geier und Aasgeier.«
Frank lächelte. Er mochte den bösen Humor seiner Großmutter.
»Alles in Ordnung?«
»Nein.«
»Wo hapert’s noch?«
»Ich habe Schmerzen.«
»Wo?«
»Überall.«
»Das kann nicht sein, das stimmt nicht. Zeig mir genau die Stelle.«
»Ich habe Schmerzen im Kopf.«
»Das ist normal. So geht’s uns allen. Los, mach schon, zeig mir lieber deine Mitpatientinnen.«
»Nein, kehr um. Die will ich nicht sehen, die kann ich nicht ausstehen.«
»Der da vorne, der Alte mit dem Sakko, der ist doch nicht übel, oder?«
»Das ist kein Sakko, Dummkopf, das ist sein Schlafanzug, und außerdem ist er stocktaub … und ein eitler Gockel.«
Sie setzte einen Fuß vor den anderen und zog über ihre Mitpatienten her. Alles war in Ordnung.
»Gut, ich gehe.«
»Jetzt?«
»Ja, jetzt. Wenn ich mich um deine Hacke kümmern soll … Stell dir vor, ich muß morgen früh raus, und ich habe niemanden, der mir das Frühstück ans Bett bringt.«
»Rufst du mich an?«
Er nickte.
»Das sagst du nur, aber du tust es nie.«
»Ich hab keine Zeit.«
»Bloß hallo und wieder auflegen.«
»Na gut. Übrigens, ich weiß nicht, ob ich nächste Woche kommen kann. Mein Chef geht mit uns auf Sauftour.«
»Wohin?«
»Ins Moulin-Rouge.«
»Im Ernst?«
»Aber nein, natürlich nicht! Wir fahren ins Limousin, besuchen den Typen, der uns seine Viecher verkauft.«
»Wer kommt denn auf so was?«
»Mein Chef. Er behauptet, das sei wichtig.«
»Du kommst also nicht?«
»Ich weiß es nicht.«
»Franck?«
»Ja?«
»Der Arzt …«
»Ich weiß, der Rothaarige, ich versuche ihn mir zu schnappen. Und du machst schön deine Übungen, ja? Der Krankengymnast ist nämlich nicht sehr zufrieden, soweit ich verstanden habe.«
Als er den erstaunten Gesichtsausdruck seiner Großmutter sah, fügte er scherzhaft hinzu:
»Du siehst, es kommt schon mal vor, daß ich anrufe.«
Er räumte die Geräte weg, aß die letzten Erdbeeren und setzte sich einen Moment in den Garten. Die Katze kam und strich ihm um die Beine, vorwurfsvoll miauend.
»Mach dir keine Sorgen, Großer, mach dir keine Sorgen. Sie kommt wieder.«
Das Klingeln des Handys riß ihn aus seinen Gedanken. Es war eine Frau. Er machte den Gockel, sie giggelte.
Sie schlug vor, ins Kino zu gehen.
Er fuhr die ganze Strecke über 170 km/h und suchte nach einer Möglichkeit, sie flachzulegen, ohne sich den Film antun zu müssen. Er war kein großer Kinofan. Vor dem Ende schlief er immer ein.
10
Mitte November, als die Kälte mit ihren boshaften Unterminierungsarbeiten begann, beschloß Camille endlich, einen Baumarkt aufzusuchen, um ihre Überlebenschancen zu erhöhen. Sie verbrachte ihren gesamten Samstag dort, schlenderte durch alle Abteilungen, berührte die Holzschilder, bewunderte die Werkzeuge, die Nägel, die Schrauben, die Türklinken, die Gardinenstangen, die Farbeimer, die Fußleisten, die Duschkabinen und die verchromten Mischbatterien. Anschließend ging sie in die Gartenabteilung und machte eine Bestandsaufnahme von allem, was sie zum Träumen brachte: Handschuhe, Gummistiefel, Gartenhacken, Hühnergitter, Drillmaschinen, braunes Gold, Dünger und Samentütchen aller Art. Sie brachte ebensoviel Zeit damit zu, die Waren zu inspizieren, wie die Kunden zu beobachten. Die Schwangere inmitten von pastellfarbenen Tapeten, das junge Pärchen, das sich wegen einer scheußlichen Wandleuchte in die Wolle kriegte, oder diesen flotten Vorruheständler in Turnschuhen mit seinem Spiralblock in der einen Hand und dem Zollstock in der anderen.
Der Stößel des Lebens hatte sie gelehrt, sich vor Gewißheiten und künftigen Projekten in acht zu nehmen, aber in einer Sache war Camille sich sicher: Irgendwann einmal, an einem Tag in weiter, weiter Ferne, wenn sie sehr alt wäre, noch älter als jetzt, mit weißen Haaren und tausend Falten und braunen Flecken auf den Händen, würde sie ihr eigenes Haus haben. Ein richtiges Haus mit einem Kupferkessel zum Marmeladeeinkochen und Buttergebäck in Weißblechdosen, hinten im Geschirrschrank versteckt. Ein langer Bauerntisch, schön schwer, und Vorhänge aus Cretonnestoff. Sie lächelte. Sie hatte keine Ahnung, was Cretonnestoff eigentlich war, noch, ob er ihr überhaupt gefallen würde, aber sie mochte die Wörter: Vorhänge aus Cretonnestoff. Sie hätte Gästezimmer für Freunde und wer weiß? Vielleicht auch Freunde? Einen gepflegten Garten, Hühner, die ihr gute Frühstückseier lieferten, Katzen, die Waldmäuse jagten, und Hunde, die Katzen jagten. Ein kleines Beet mit duftenden Gewürzkräutern, einen Kamin, durchgesessene Sessel und überall Bücher. Weiße Tischtücher, Serviettenringe, auf irgendwelchen Trödelmärkten erstanden, eine Musikanlage, um dieselben Opern zu hören wie ihr Papa, und einen Kohleherd, auf dem sie den ganzen Morgen Rindfleisch mit Karotten schmoren lassen würde.
Rindfleisch mit Karotten … so ein Blödsinn.
Ein kleines Häuschen, wie Kinder es zeichnen, mit einer Tür und zwei Fenstern auf jeder Seite. Altmodisch, unauffällig, still, zugewachsen mit wildem Wein und Kletterrosen. Ein Haus mit Streifenwanzen auf der Außentreppe, diesen kleinen schwarzroten Tierchen, die immer zu zweit aneinanderkleben. Eine wunderschön warme Gartentreppe, die den ganzen Tag über die Hitze gespeichert hätte und auf die sie sich am Abend setzen würde, um auf den Reiher zu warten.
Dazu ein altes Gewächshaus, das ihr als Atelier dienen würde … Obwohl, in dem Punkt war sie sich nicht so sicher. Bis jetzt hatten ihre Hände sie immer im Stich gelassen, und vielleicht war es besser, sich nicht mehr auf sie zu verlassen.
Vielleicht würde die Linderung aber gar nicht von dort kommen?
Von wo dann? Von wo, fragte sie sich plötzlich verängstigt.
Von wo?
Sie fing sich wieder und sprach einen Verkäufer an, bevor sie ganz den Boden unter den Füßen verlor. Das kleine Häuschen im Wald war zwar ganz nett, aber in der Zwischenzeit fror sie sich am Ende eines feuchten Flurs den Hintern ab, und dieser aufgeweckte junge Mann im gelben Poloshirt wäre bestimmt in der Lage, ihr zu helfen:
»Es zieht von draußen rein, sagen Sie?«
»Ja.«
»Ist es ein Velux-Fenster?«
»Nein, ein Oberlicht.«
»Diese Dinger gibt’s noch?«
»Leider.«
»Hier haben Sie, was Sie brauchen.«
Er hielt ihr eine Rolle Dichtungsband zum Festnageln hin, speziell zum Abdichten von Fenstern gedacht, aus ummanteltem Schaumstoff, haltbar, abwaschbar und luftundurchlässig. Eine wahre Freude.
»Haben Sie einen Tacker?«
»Nein.«
»Einen Hammer? Nägel?«
»Nein.«
Wie ein kleiner Hund folgte sie ihm durch den Laden, während er ihren Korb füllte.
»Und zum Heizen?«
»Was haben Sie zur Zeit?«
»Einen Elektroofen, der nachts durchbrennt und außerdem stinkt!«
Er nahm seine Rolle sehr ernst und hielt ihr einen ganzen Vortrag. In schulmeisterlichem Ton pries, beurteilte und verglich er die Vorzüge von Ventilatoren, Heizstrahlern, Infrarotgeräten, Keramikheizkörpern, Ölradiatoren und Konvektoren. Davon bekam sie einen Drehwurm.
»Und was nehme ich jetzt?«
»Tja, da müssen Sie mal sehen.«
»Aber, das ist es ja. Ich sehe gar nichts.«
»Nehmen Sie einen Ölradiator, der ist nicht so teuer und heizt gut. Der Oléo von Calor ist nicht schlecht.«
»Hat er Rollen?«
»Eh …« er zögerte und überflog die technischen Daten. »Mechanischer Thermostat, aufwickelbare Geräteschnur, einstellbare Leistung, integrierter Luftbefeuchter, blablabla, Rollen! Ja, Mademoiselle!«
»Super. Dann kann ich ihn zu mir ans Bett stellen.«
»Hm … Wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf. Wissen Sie, ein Mann ist auch nicht schlecht. Im Bett wärmt er ganz schön.«
»Ja, aber er hat keine aufwickelbare Geräteschnur …«
»Das wohl nicht.«
Er lächelte.
Als er sie wegen des Garantiescheins zur Kasse begleitete, sah sie einen künstlichen Kamin mit künstlicher Glut, künstlichen Holzscheiten, künstlichen Flammen und künstlichem Feuerbock.
»Oh! Und das hier? Was ist das?«
»Ein elektrischer Kamin, aber ich rate Ihnen davon ab, das ist der reinste Schwindel.«
»Doch, doch! Zeigen Sie ihn mir!«
Es war ein Sherbone, ein englisches Modell. Nur die Engländer konnten so ein häßliches, kitschiges Teil erfinden. Je nach Heizleistung (1000 oder 2000 Watt) stiegen die Flammen höher oder weniger hoch. Camille war im siebten Himmel:
»Genial, man könnte meinen, der sei echt!«
»Haben Sie den Preis gesehen?«
»Nein.«
»532 Euro, der reinste Schwachsinn. Eine alberne Spielerei. Lassen Sie sich nicht foppen.«
»In Euros kapiere ich sowieso nichts.«
»Das ist nicht so schwer, gehen Sie von 3500 Franc aus für ein Teil, das Ihnen weniger Wärme liefert als der Calor zu knapp 600 Franc.«
»Ich nehme ihn.«
Der junge Mann hatte sehr viel gesunden Menschenverstand, und unsere Zikade schloß die Augen, als sie ihm die Kreditkarte hinhielt. Wo sie schon dabei war, gönnte sie sich noch den Lieferdienst. Als sie angab, daß sie im siebten Stock wohne, ohne Fahrstuhl, sah die Dame sie schief an und teilte ihr mit, das koste zehn Euro extra.
»Kein Problem«, antwortete sie und kniff die Pobacken zusammen.
Er hatte recht. Es war der reinste Schwachsinn.
Ja, es war der reinste Schwachsinn, aber der Ort, an dem sie wohnte, war kaum besser. Fünfzehn Quadratmeter unterm Dach, womit ihr sechs blieben, um aufrecht zu stehen, eine Matratze auf dem Boden, ein winziges Waschbecken in der Ecke, das eher an ein Pinkelbecken erinnerte und ihr als Spüle und Badezimmer diente. Ein Ständer als Kleiderschrank und zwei übereinandergestapelte Kartons als Regal. Eine Elektroplatte auf einem Campingtisch. Ein Minikühlschrank, der auch als Arbeitsplatte, als Eßzimmer und Couchtisch diente. Zwei Hocker, eine Halogenlampe, ein kleiner Spiegel und ein weiterer Karton als Küchenschrank. Was noch? Der Schottenkoffer, in dem sie das wenige ihr noch verbliebene Material eingelagert hatte, zwei Zeichenmappen und … Nein, das war alles. Das war die Grundstücksbegehung.
Das Stehklo befand sich am Ende des Flurs rechts, und die Dusche war über dem Klo. Man brauchte bloß den zu diesem Zweck vorgesehenen schimmeligen Holzrost über das Loch zu legen.
Keine Nachbarn oder aber ein Gespenst, denn sie hörte manchmal Gemurmel hinter der Tür Nr. 12. Ein Vorhängeschloß an ihrer Tür und der Name einer früheren Mieterin in schönen lila Buchstaben mit Reißzwecken am Türstock befestigt: Louise Leduc. Dienstmädchen aus dem vorigen Jahrhundert.
Nein, Camille bereute ihren Kaminkauf nicht, auch wenn sich der Preis auf fast die Hälfte ihres Monatseinkommens belief. Ach, na ja, egal. Was sollte sie sonst mit ihrem Gehalt anfangen … Im Bus ließ sie die Gedanken schweifen und fragte sich, wen sie wohl zur Einweihung einladen könnte.
Ein paar Tage darauf hatte sie ihren Kandidaten:
»Wissen Sie was, ich habe einen Kamin!«
»Pardon? Ah! Oh! Sie sind es. Guten Tag, Mademoiselle. Tristes Wetter, nicht wahr?«
»Sie sagen es! Und warum nehmen Sie dann Ihre Mütze ab?«
»Na ja, äh … Ich … Ich wollte Sie grüßen, nicht wahr?«
»Aber nicht doch, setzen Sie sie wieder auf! Sie holen sich ja den Tod! Ich habe Sie gerade gesucht. Ich wollte Sie dieser Tage zum Abendessen am Kamin einladen.«
»Mich?« fragte er mit halb erstickter Stimme.
»Ja! Sie!«
»Oh, nein, aber ich … äh … arum? Wirklich, das ist …«
»Das ist was?« rutschte es ihr heraus. Sie wurde auf einmal müde, während sie beide schlotternd vor ihrem bevorzugten kleinen Lebensmittelgeschäft standen.
»Das ist … äh …«
»Nicht möglich?«
»Nein, das ist … Das ist zuviel der Ehre!«
»Ach!« sagte sie belustigt, »zuviel der Ehre. Aber nicht doch, Sie werden sehen, es ist ganz schlicht bei mir. Sie sind also einverstanden?«
»Na ja, ich … ich … wäre sehr erfreut, Ihnen bei Tisch Gesellschaft zu leisten.«
»Hm … Es ist nicht wirklich bei Tisch, wissen Sie?«
»Ach so?«
»Eher ein Picknick. Eine kleine Mahlzeit, ganz zwanglos.«
»Ausgezeichnet, ich liebe Picknicks! Ich kann mein Plaid und meinen Korb mitbringen, wenn Sie wollen.«
»Was für einen Korb?«
»Meinen Picknickkorb!«
»So ein Teil mit Geschirr drin?«
»Mit Tellern, in der Tat, Besteck, einer Tischdecke, vier Servietten, einem Korkenzie…«
»Oh ja, tolle Idee! Ich habe nichts dergleichen! Und wann? Heute abend?«
»Nun ja, heute abend … tja … ich …«
»Was ich?«
»Ich meine, ich habe meinen Mitbewohner nicht in Kenntnis gesetzt.«
»Ich verstehe. Aber er kann ebenfalls kommen, das ist nicht das Problem.«
»Er?« wunderte er sich, »nein … er nicht. Erstens weiß ich nicht, ob … Tja, ob er ein anständiger Bursche ist. Ich … Verstehen wir uns nicht falsch, ich meine nicht sein Benehmen, gleichwohl … na ja … ich es nicht teile, sehen Sie, nein, ich denke eher an … Ja, und außerdem ist er heute abend nicht da. Wie übrigens an allen anderen Abenden auch.«
»Rekapitulieren wir«, sagte Camille gereizt, »Sie können nicht kommen, weil Sie Ihren Mitbewohner nicht in Kenntnis gesetzt haben, der sowieso nicht da ist, ist es so?«
Er sackte in sich zusammen und befummelte die Knöpfe an seinem Mantel.
»He, ich zwinge Sie doch zu nichts? Sie müssen nicht kommen, wissen Sie …«
»Es ist nur …«
»Nur was?«
»Nein, nichts. Ich komme.«
»Heute abend oder morgen. Danach arbeite ich wieder bis zum Ende der Woche.«
»Einverstanden«, flüsterte er, »einverstanden, morgen. Sie … Sie sind da, nicht wahr?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Sie sind aber wirklich kompliziert! Natürlich bin ich da, wo ich Sie doch einlade!«
Er lächelte sie unbeholfen an.
»Bis morgen dann?«
»Bis morgen, Mademoiselle.«
»Gegen acht?«
»Punkt zwanzig Uhr, ist vermerkt.«
Er verneigte sich und wandte sich um.
»He!«
»Pardon?«
»Sie müssen die Hintertreppe nehmen. Ich wohne im siebten Stock, Nummer 16, Sie werden sehen, die dritte Tür links.«
Mit der Mütze machte er ihr ein Zeichen, daß er verstanden habe.
11
»Treten Sie ein, treten Sie ein! Sie sehen ja toll aus!«
»Oh«, er errötete, »das ist nur eine ›Kreissäge‹. Der Strohhut hat meinem Großonkel gehört, und für ein Picknick dachte ich …«
Camille traute ihren Augen nicht. Die Kreissäge war nur das Tüpfelchen auf dem i. Er hatte einen Stock mit Silberknauf unterm Arm, trug einen hellen Anzug mit einer roten Fliege und hielt ihr einen riesigen Koffer aus Weidenruten hin.
»Ist das Ihr Korb?«
»Ja, aber warten Sie, ich habe noch etwas.«
Er ging zum Ende des Flurs und kehrte mit einem Strauß Rosen zurück.
»Nein, wie liebenswürdig.«
»Wissen Sie, es sind keine echten Blumen.«
»Pardon?«
»Nein, sie kommen aus Uruguay, glaube ich. Ich hätte echte Gartenrosen vorgezogen, aber mitten im Winter ist es … ist es …«
»Ist es unmöglich.«
»Genau! Unmöglich!«
»Kommen Sie schon, treten Sie ein, fühlen Sie sich wie zu Hause.«
Er war so groß, daß er sich sogleich setzen mußte. Er rang nach Worten, aber ausnahmsweise war nicht das Stottern das Problem, sondern eher eine Art – Staunen.